"Alexander-Haus" in Groß Glienicke

Ein Sommerhaus und seine jüdische Geschichte

Ein in einen Baum eingewachsener verrosteter Zaun steht am 20.4.2011 am südlichen Ufer des Groß Glienicker Sees in Brandenburg.
Ein in einen Baum eingewachsener verrosteter Zaun am südlichen Ufer des Groß Glienicker Sees © picture-alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Igal Avidan · 27.05.2016
Jeder vierte Bewohner Groß Glienickes war einst jüdisch - das haben die Dorfbewohner nachrecherchiert. Sie stießen auf das Sommerhaus der Alexanders, das abgerissen werden sollte. Sie kontaktieren den Enkel: Thomas Harding. Schließlich ist der Verein "Alexander-Haus" entstanden - ein Platz für Versöhnung zwischen Christen, Juden und Moslems.
An einem Frühlingsmorgen 1993 lief Elsie Harding auf das Sommerhaus ihrer Kindheit am Glienicker See bei Berlin zu. 56 Jahre, nachdem ihre jüdische Familie aus Nazi-Deutschland fliehen musste, wollte sie ihren Enkeln das Wochenendhaus zeigen, das ihr Vater einst gebaut hatte. Ihr Enkelsohn Thomas Harding dokumentierte die Szene mit seiner Videokamera.
Die 80-jährige Elsie Alexander ignoriert den bellenden Hund und begrüßt den jetzigen Hausbewohner in akzentfreiem Deutsch. Sie beruhigt den misstrauischen Mieter mit dem Versprechen: "Wir wollen das Haus nicht wieder haben. Das war unser Haus". Daraufhin fragt er: "Sie sind die Alexanders?" Elsie bejaht und überreicht ihm eine Flasche Whiskey. Der Mann lässt sie alle ein.
An der Wand, wo einst der Kamin gestanden hat, entdeckt Elsie die hellblauen Kacheln, die ihr Vater vor 66 Jahren aus Holland mitgebracht hatte. Als Beweis präsentiert sie eine Fotografie aus alten Zeiten.
Dieser Familienausflug wäre ein privates Ereigniss geblieben, wenn nicht einige Bewohner von Groß Glienicke über die jüdische Geschichte ihres Dorfes recherchiert hätten.

Marlene Dietrich war eine Patientin von Dr. Alexander

Thomas Harding: "Eines Tages kontaktierte mich eine Bewohnerin von Groß Glienicke und sagte, dass sie an einer Nachforschung über das Haus meiner Familie teilnehme. Sie war sehr besorgt über dessen Zustand und lud mich zum Besuch ein. Ich hätte mein Buchprojekt ohne diese Recherche erst gar nicht begonnen. Die Dorfbewohner stellten überraschend fest, dass vor dem Krieg jeder vierte der 700 Dorfbewohner jüdisch war."
2013 besucht Thomas Harding erneut das einstöckige kleine Haus, das sein Urgroßvater Alfred Alexander, Präsident der Berliner Ärztekammer, 1927 als Wochenendhaus errichtete. Zu dessen Patienten gehörten Marlene Dietrich, Albert Einstein und Max Reinhardt. Mit seiner Filmkamera fing Dr. Alexander die glücklichen Momente am See ein, die 1936 abrupt endeten. Die Familie wanderte nach England aus und boykottierte seitdem Deutschland. Und 2013 steht Thomas Harding vor dem Haus, das seine Großmutter ihren "Seelenort" nannte. In seinem Buch Sommerhaus am See schreibt er:
Zitat: "(Es war zugewachsen von Büschen, Kletterpflanzen und Bäumen. Die Fenster waren mit Sperrholzplatten zugenagelt, das Dach war rissig, die gemauerten Schornsteine bröckelten…) Ich kletterte hinein und sah Berge von schmutziger Kleidungund gammeligen Kissen, mit Graffiti beschmierte Wände, verrottende Dielen und leere Bierflaschen. Ein Raum schien als Drogenhöhle genutzt worden zu sein; er war übersät mit kaputten Feuerzeugen und verrußten Löffeln."
Von der Kommunalverwaltung in Potsdam erfährt Harding, dass der Abriss des Hauses, das inzwischen der Stadt gehört, kurz bevorsteht. Die Denkmalschützer raten ihm, eine herausragende historische oder kulturelle Bedeutung des schlichten Holzhauses zu beweisen, um es zu retten. Denn einen herausragenden architektonischen Wert hat es nicht.

Es geht im nicht um die Immobilie

Thomas Harding versucht nicht, das Familienhaus zurückzufordern.
"Meine Familie besaß dieses Grundstück nie, sondern pachtete es nur und baute darauf einige Häuser, die uns gehörten. Mein Urgroßvater durfte im Gegensatz zu unseren Nachbarn das Grundstück nicht erwerben, weil er jüdisch war und der Landbesitzer antisemitisch und ein NSDAP-Mitglied. 1951 stellte meine Urgroßmutter einen Antrag auf Restitution. Erst neun Jahren später wurden wir mit 90 D-Mark entschädigt. Nach der Wiedervereinigung erhielt die Familie einige tausende Euros und musste dafür alle Rechte auf ihr Eigentum aufgeben."
Thomas Harding ging es nie um die Immobilie, sondern um die Geschichte der fünf Familien, deren Leben mit dem "Alexanderhaus" verbunden war: ein Stück deutscher Geschichte. Zum Beispiel die der Familie Kühne, die im Haus sowohl die Teilung Berlins als auch die Wiedervereinigung erlebte, wie Wolfgang Kühne Hardings Großmutter Elsie bei ihrem Besuch erzählte.
Harding: "Er zeigte den Garten und erklärte, dass die Berliner Mauer über das Grundstück gebaut wurde. Obwohl es ein Haus am See war, so dass unsere Familie im See schwimmen und spielen konnte, konnten diese armen DDR-Bürger ab 1961 den See nicht mehr erreichen, weil die Mauer das verhinderte."
Um das kleine Haus zu retten, recherchierte Thomas Harding die Geschichte des Hauses am Glienicker See. Gleichzeitig musste er mehrere Verwandte in England überzeugen, die sich an die schmerzliche Geschichte nicht mehr erinnern wollten, bei den Recherchen mitzuhelfen. So fand sein Cousin auf seinem Dachboden Filme, die der Hobbyfotograf Alfred Alexander zwischen 1932 und 1935 am See gedreht hatte – mit glücklichen Verwandten und Freunden. Aber die Denkmalbehörde hielt am geplanten Abriss fest.

Thomas Harding hat syrische Verwandte

Daher organisierte Thomas Harding im April 2014 eine große Aufräumaktion, an der 85 Dorfbewohner und einige seiner Familienangehörigen aus England teilnahmen. Diese große Resonanz beeindruckte die Lokalpolitiker.
Harding: "Jetzt konnte man das Haus richtig sehen und es war wieder wunderschön. Wir luden die Denkmalschützer erneut, die diesmal einwilligten. Geholfen hat dabei die politische Unterstützung durch die Stadt Potsdam sowie das Gutachten eines Architekten, dass das Haus historisch wertvoll sei. Nun ist es ein denkmalgeschütztes Haus."
Bei der zweiten Putzaktion 2015 halfen auch Thomas Hardings syrische Verwandte, die als Flüchtlinge nach Berlin kamen. Wie ist das überhaupt möglich?
"Meine Schwester heiratete vor 25 Jahren einen syrischen Kurden, so dass fünf unserer Verwandten aus Damaskus nach Berlin kamen. Sie wollten unbedingt mithelfen. Als ich fragte warum, sagten sie: 'Weil wir eine Familie sind'. Ein Cousin sagte, was mich sehr bewegte: 'Wenn ich eines Tages nach Damaskus zurückkehre, hoffe ich, dass mein Haus noch steht und ich es reparieren kann'."
Nun arbeitet der lokale Verein "Alexander-Haus" gemeinsam mit den Dorfbewohnern, den knapp 200 überwiegend muslimischen Flüchtlingen im Dorf sowie mit muslimischen Gruppen, um in Haus am Glienicker See ein interreligiöses Projekt für Versöhnung zwischen Christen, Juden und Moslems aufzubauen.
Mehr zum Thema