Alexander Goldstein: "Aspekte einer geistigen Ehe"

Betrachtungen eines Solitärs     

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Buchcover zu Aspekte einer geistigen Ehe"
Verbindungslinien zwischen vielen Lektüren: Mit literarisch geschultem Blick durchstreift Alexander Goldstein die Stadt Jaffa. © Deutschlandradio / Matthes & Seitz Berlin
Von Marko Martin · 08.06.2021
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Alexander Goldstein hatte ein feines Gespür für geschichtliche und philosophische Zusammenhänge. In dem Essay "Aspekte einer geistigen Ehe" folgt man ihm durch das Jahrtausende alte Jaffa und saugt Bilder, Gerüche, Erinnerungen ein.
"Das Umfeld ist bürgerlich, ich selbst lebe prekär, was ich der Genauigkeit halber mitteile." Damit ist ein Ton gesetzt, wie er seit jeher aus der russischen Literatur bekannt ist - von Gontscharows "Oblomow" bis zu mancherlei Protagonisten bei Tolstoi oder Turgenjew: Es spricht "lischni tschelowek / der überflüssige Mensch", ein Räsonierer, marginalisierter Außenseiter, der "vernetzt" ist lediglich in dem Sinne, dass er geistige Verbindungslinien zieht - durch Zeit und Raum, zwischen Lektüren, Tageseindrücken und seiner eigenen Gestimmtheit.

Ein Müßiggänger im quirligen Jaffa

Nun lebt der Protagonist von Alexander Goldsteins romaneskem Essay "Aspekte einer geistigen Ehe" allerdings nicht auf einer lauschigen Datscha inmitten von Birkenwäldchen, sondern in einer Wohnung im quirlig-lärmenden Jaffa. Heute ein Vorort von Tel Aviv, existierte die Stadt bereits zu biblischen Zeiten und ist mit der Jona-Walfisch-Geschichte ebenso verbunden wie späterhin mit Napoleons gescheiterter Ägypten-Expedition.
Und Alexander Goldstein? Geboren 1957 im estnischen Tallinn, aufgewachsen im aserbaidschanischen Baku und 1991, nach dem Ende der UdSSR, wie so viele sowjetische Juden nach Israel emigriert, wo er 2006 an Krebs starb, war ein literarischer Chronist mit einem feinen, mitunter durchaus wütenden Gespür für geschichtliche und philosophische Zusammenhänge.
So ist sein Buch - das zweite in deutscher Übersetzung nach dem fulminanten Baku-Erinnerungsroman "Denk an Famagusta" - trotz seines Titels nicht die Geschichte einer womöglich platonischen Ehe, sondern der Literatur gewordene Selbstbehauptungswille eines Solitärs, der im mehrfachen Wortsinn "von woanders her" kommt. Und nichts lag ihm in diesem bereits 2001 im russischen Original erschienenen Buch ferner, als irgendetwas erwartbar Sozial- oder Gesellschaftskritisches zum aktuellen Israel oder der sogenannten "Palästinenser-Problematik" beizutragen.

Hedonistisches Treiben, literarische Echos

Stattdessen läuft Goldstein durch jenes jahrtausendealte Jaffa, saugt Bilder, Gerüche und Reminiszenzen ein und verwandelt sie in eine suggestive Prosa, die sich jeder Gefälligkeit verweigert. Dass seine Betrachtungen in Kurzkapitel unterteilt sind, hat gleichwohl etwas Leserfreundliches und gibt Zeit zum Durchatmen. Wird der Protagonist im Angesicht der katholischen Kathedrale in Jaffa sofort an Joseph Roth und dessen Konversion vom Judentum zum Katholizismus erinnert, folgen wenig später Reflexionen über den möglichen Sinn von Mythos und Gebundenheit.
Für ihn selbst, den glaubenslosen russischen Juden mitten im Nahen Osten, kann es jedoch keine Sicherheit in religiösen Denkgebäuden geben, noch nicht einmal Geborgenheit in einer privaten Beziehung oder in einem Milieu Gleichgesinnter. Das hedonistische Treiben der Tel Aviver Party-People erinnert ihn an die Riten in indischen Ashrams, die israelische Innenpolitik ist ihm eher gleichgültig, umso intensiver fällt seine Beschäftigung mit Autoren wie Albert Camus und George Orwell aus.

Sinn für Tiefenschichten

Der hochgebildete Einsame als Leser und Stadtgänger, den Kontexte und Querverbindungen geradezu überfallen: Das ist faszinierend in jeder Zeile und eine Wohltat für all jene unter seinen Lesern, die gleich ihm unter der Schnappatmigkeit einer ahistorischen, lediglich tagesaktuellen Perspektive leiden. Sinnlicher schreibend als hiesige Kulturkritiker vom Schlage eines Botho Strauß oder Peter Handke, entgeht jedoch auch Alexander Goldstein nicht immer der Falle der Selbstgerechtigkeit. Menschen (die sephardischen oder aschkenasischen Juden, die Araber, die in Israel ansässigen rumänischen oder chinesischen Gastarbeiter) gerinnen in seiner Beschreibung zu Vertretern eines kollektivistischen Typus, denen dies und das zugeschrieben wird.
Nicht unbedingt gesegnet mit der Gabe der Selbstironie, fällt dem Autor dabei das größte Paradox gar nicht auf: All die derart subtil ausdifferenzierte Individualität, die er sich selbst zugutehält, wird den anderen kaum je zugestanden. Doch selbst als solch partielles Ärgernis bleibt sein Buch ein Augenöffner, der ästhetisch bezirzt und im besten Sinn zu provozieren weiß: Wer Alexander Goldstein liest, bekommt einen Sinn für Tiefenschichten - und für den Preis, der für eine solche Gestimmtheit womöglich zu zahlen ist. Der "überflüssige Mensch" hat ein widerborstiges, jedoch ganz und gar nicht überflüssiges Buch geschrieben.

Alexander Goldstein: "Aspekte einer geistigen Ehe"
Aus dem Russischen von Regine Kühn
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021
331 Seiten, 28 Euro

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