Keine Hoffnung auf eine humanitäre Lösung
Die Situation in der syrischen Stadt Aleppo sei im Moment "aussichtslos", sagt der Nahost-Experte und Wissenschaftler Günter Meyer. Er kritisierte auch die Rolle der Vereinten Nationen: Sie seien derzeit nur Mittel zum Zweck für politische Verhandlungen.
Günter Meyer, Nahost-Experte und Professor am Geographischen Institut der Universität Mainz, beurteilt die Lage der Menschen in der umkämpften syrischen Stadt Aleppo im Moment als "aussichtslos". Er begrüße die Verhandlungen über eine Feuerpause und die "verzweifelten Hilferufe" der Ärzte in Aleppo, die einen gewissen politischen Druck ausübten, gab jedoch zu bedenken:
"Aber dass es tatsächlich zu einer humanitären Lösung kommen kann, vor allen Dingen bei der Größenordnung, die wir hier haben – die UN hatte 48 Stunden gefordert, um die Bevölkerung versorgen zu können - , daran ist natürlich überhaupt nicht zu denken."
Waffenaufrüstung für die Dschihadisten
Meyer verwies im Deutschlandradio Kultur auf die Erfahrungen bei der letzten UN-Waffenruhe. Sie sei vor allem dafür genutzt worden, dass die Dschihadisten in großer Zahl in den Ost-Teil von Aleppo gekommen und sie auch mit Waffen versorgt worden seien. Die Waffen seien über die Türkei von Katar und Saudi-Arabien finanziert worden, so Meyer:
"Dass hier eigentlich die Haupt-Aufrüstung statt gefunden hat. Und von einer solchen Waffenruhe sich so austricksen zu lassen – aus russischer beziehungsweise der Sicht der Assad-Regierung – das will man nicht noch ein zweites Mal."
Kritik an der Rolle der Vereinten Nationen
Der Einfluss der Vereinten Nationen beschränke sich im Wesentlichen darauf, "dass sie als Mittel zum Zweck für politische Verhandlungen dient", kritisierte Meyer. Die Opposition habe diese Friedensverhandlungen im April abgebrochen, inzwischen habe der neue Sonderbeauftragte Staffan De Mistura allerdings neue Verhandlungen für Anfang September angekündigt. Syriens Präsident Assad befinde sich jetzt in einer "deutlich gestärkten Position".
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue Vorschläge gemacht werden, wie man die Situation der Menschen in der eingeschlossenen Stadt Aleppo verbessern könnte. Von Luftkorridoren ist da die Rede, von Feuerpausen, aber nichts bringt die Verzweiflung der Menschen besser auf den Punkt als jüngst der Brief der Ärzte aus Aleppo, gerichtet an US-Präsident Obama. Uns helfen nun keine Tränen mehr, kein Mitleid und nicht einmal Gebete, heißt es da in dem Brief, wir benötigen Ihr Handeln. Aber das scheint weit entfernt. Günter Meyer ist Professor am Geografischen Institut der Universität Mainz und forscht zur politischen Geografie im arabischen Raum, unter anderem auch zum syrischen Bürgerkrieg. Ich grüße Sie!
Günter Meyer: Ich grüße Sie, Frau Brink!
Brink: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist heute in Jekaterinburg, um seinen russischen Kollegen Lawrow zu treffen. Was bringen denn solche Gespräche überhaupt noch?
Meyer: Es geht hier in erster Linie um die russisch-ukrainischen Spannungen und da spielt Deutschland ja eine wichtige Rolle. Dagegen in Syrien ist die Rolle der Bundesrepublik weitgehend zu vernachlässigen. In militärischer Hinsicht sind zwar Tornadoaufklärungsflugzeuge beteiligt, die auch gerade für die aktuelle Entwicklung eine wichtige Rolle spielen, denn diese Daten werden an die militärischen Kontroll- und Operationszentren in Jordanien und im türkischen Iskenderun geliefert und stehen dort der Allianz unter US-Führung zur Verfügung. Aber zur Allianz gehören eben auch Türkei, Katar und Saudi-Arabien, deren Geheimdienstoffiziere, das sind diejenigen, die die Aufständischen mit Daten versorgen und die auf jeden Fall dazu beigetragen haben, dass erfolgreich der Belagerungsring um Aleppo durchbrochen werden konnte.
Das heißt, wo Herr Steinmeier jetzt konkret etwas machen kann, das ist eben die humanitäre Hilfe. Der Vorschlag, eine Luftbrücke dort einzurichten, um das Elend der Bevölkerung zu lindern, ist eine zwiespältige Sache. Wir haben gesehen, die Russen haben bisher schon Versorgungsgüter über dem Osten abgeliefert, die Dschihadisten haben das Ganze beschlagnahmt, angeblich um zu untersuchen, ob irgendwie Gift oder Ähnliches darin ist, aber tatsächlich um sich selber zu versorgen. Insofern, auch humanitäre Hilfe aus der Luft ist eine problematische Sache.
Das Regime in Syrien fürchtet Feuerpausen
Brink: Aber weil Sie gerade auch Russland angesprochen haben, den Korridor, Frank-Walter Steinmeier hat das ja schon vor Tage gefordert, Russland hat dazu eben auch angekündigt eine Feuerpause. Davon sieht man aber nichts. Kann man Einfluss überhaupt auf ihn üben diesbezüglich?
Meyer: Nun, also, was die Feuerpause anbelangt, auch was die Korridore anbelangt, die Kämpfe gehen weiter, die Kämpfe am Boden gehen weiter. Wer dafür verantwortlich ist, wissen wir nicht. Die Luftangriffe sind zwar eingestellt, aber ob die Regierungstruppen jetzt angefangen haben oder weitergeschossen haben auf die Dschihadisten oder umgekehrt, das ist unbekannt.
Auf jeden Fall ist die Gefahr bei den Feuerpausen aus Sicht des Regimes, dass eben das dazu genutzt wird, um Stellungen hier zu verlegen, um Truppen zu verlegen, sodass solche Feuerpausen nicht unproblematisch sind. Und humanitäre Korridore, damit die Bevölkerung etwa die belagerten Gebiete verlassen kann, das ist nicht im Interesse der Dschihadisten. Wir haben es bei anderen Belagerungsfällen immer gesehen, dass diese Korridore von Scharfschützen beschossen worden sind, um zu verhindern, dass die Einwohner sich in Sicherheit bringen können und dass sie weiter als humanitäre beziehungsweise als menschliche Schutzschilde für die Dschihadisten dienen können.
Erfahrungen mit der letzten UN-Waffenruhe in Aleppo
Brink: So wie das Sie jetzt aber gerade schildern, ist die Situation ja dann eigentlich komplett aussichtslos, die Menschen in irgendeiner Art und Weise zu versorgen oder in Sicherheit zu bringen?
Meyer: Im Augenblick ist die Situation aussichtslos. Diese Verhandlungen sind zwar sehr zu begrüßen, auch die verzweifelten Hilferufe üben natürlich einen gewissen politischen Druck aus. Aber dass es tatsächlich zu einer humanitären Lösung kommen kann vor allen Dingen bei der Größenordnung, die wir hier haben – die UN hatte 48 Stunden gefordert, um die Bevölkerung versorgen zu können –, daran ist natürlich überhaupt nicht zu denken.
Gerade auch aufgrund der Erfahrungen bei der letzten UN-Waffenruhe, die vor allem dadurch genutzt worden ist, dass die Dschihadisten in großer Zahl in den Ostteil von Aleppo gekommen sind, dass sie auch mit Waffen versorgt worden sind, über die Türkei finanziert, durch Katar und Saudi-Arabien, dass hier eigentlich die Hauptaufrüstung stattgefunden hat. Und in einer solchen Waffenruhe sich so austricksen zu lassen aus russischer beziehungsweise Sicht der Assad-Regierung, das will man nicht noch ein zweites Mal.
Sieht die Staatengemeinschaft tatenlos zu?
Brink: Aber dann sehen wir eigentlich oder sieht die Staatengemeinschaft dann tatenlos zu weiterhin oder wohin muss dieser politische Druck dann letztendlich münden?
Meyer: Nun, der Einfluss der Vereinten Nationen beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass sie als Mittel zum Zweck für politische Verhandlungen dient. Es geht um reine Ansätze, über Verhandlungen zu einer politischen Lösung zu kommen. Die Opposition hat diese Friedensverhandlungen im April abgebrochen, de Mistura hat angekündigt, dass jetzt neue Verhandlungen …
Brink: Das ist der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen.
Meyer: Der Sonderbeauftragte, genau … dass neue Verhandlungen Anfang September durchgeführt werden sollen. Und da befindet sich Assad natürlich in einer deutlich gestärkten Position.
Der verzweifelte Brief der Ärzte aus Aleppo
Brink: Ich habe jetzt noch mal diesen Brief der Ärzte aus Aleppo, weil der ja sehr bewegend ist, weil er die Sache eigentlich so auf den Punkt bringt. Der sagt, es nützen uns jetzt keine Gebete, kein Mitleid, keine Tränen, wir müssen handeln. Aber wer kann denn jetzt – noch mal nachgefragt – überhaupt handeln?
Meyer: Im Wesentlichen geht es beim Regime mit Unterstützung von Russland, mit Unterstützung vom Iran und der libanesischen Hisbollah darum, Aleppo komplett unter die Kontrolle zu bringen. Das ist die große strategische Zielsetzung. Auf der anderen Seite diejenigen, die handeln könnten, das wäre die Allianz unter Führung der USA. Diese Allianz hat sich bisher aber nur darauf geeinigt, gegen den Islamischen Staat vorzugehen.
Und nicht der Islamische Staat belagert Aleppo, sondern vor allem die Nusra-Front, Al-Kaida-Ableger, die die Führung bei den Dschihadisten übernommen hat. Und gegen die kann man vonseiten der Allianz zumindest nicht offiziell vorgehen, denn das würde bedeuten, dass etwa die USA Russland angreifen würde. Das heißt, die Situation ist völlig verfahren, die Kampfhandlungen werden weiter fortgesetzt werden und es wird nur noch blutiger werden. Indirekt verdeckt Unterstützung durchaus von Seiten der USA, von Seiten Russlands für die Nusra-Front, für Al Kaida, um hier nicht hinzunehmen, dass tatsächlich das Regime so gestärkt wird und die zweitgrößte Stadt des Landes wieder komplett unter die Kontrolle von Damaskus kommt.
Brink: Keine guten Aussichten. Vielen Dank, Günter Meyer vom Geografischen Institut der Uni Mainz, schönen Dank für Ihre Einschätzungen.
Meyer: Vielen Dank, Frau Brink!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.