Carla Simón über ihren Film "Alcarràs – Die letzte Ernte"

Das Stück Erde, an dem das Herz hängt

09:18 Minuten
Ein kleines Mädchen sitzt zwischen Baumblättern und hat einen Pfirsich in der Hand.
Szene aus "Alcarràs": Kinder bringen eine unbändige Energie ans Set, sagt die Filmemacherin Carla Simón. © Piffl Medien
Carla Simón im Gespräch mit Patrick Wellinski · 06.08.2022
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Das beschwerliche Leben der spanischen Pfirsichbauern steht im Mittelpunkt von Carla Simóns Drama "Alcarràs". Jetzt kommt der auf der Berlinale preisgekrönte Film bei uns ins Kino. In Spanien wird er bereits intensiv diskutiert.
Patrick Wellinski: Sie haben schon auf der Berlinale gesagt, dass Sie „Alcarràs“ ihrer Familie widmen, die eine Pfirsichfarm besitzt. Wie persönlich war das Filmprojekt für Sie?
Carla Simón: Das Projekt ist sehr persönlich für mich. Meine Onkel und Tanten sind Pfirsichbauern in der Region um Alcarràs. Ich kenne diese Landschaft gut. Ich habe dort alle meine Sommerferien und viele Weihnachtsfeste verbracht. Als mein Großvater vor drei Jahren starb, stellte ich mir die Frage: Was wird aus den Bäumen, die wir gepflanzt haben, wenn wir nicht mehr da sind? Diese Fragen stellen sich viele Bauernfamilien in der Region, denn es wird immer härter nur vom Früchteanbau zu leben. Gerade für kleine Familienunternehmen ist das unmöglich geworden. Diese Gedanken führten zu diesem persönlichen Film.

Worum geht's? Die Pfirsichbauern aus der Region Alcarràs stehen vor einer Katastrophe. Ihnen droht die Räumung. Die Jahrzehnte alten Pfirsichbäume sollen für Solarpanele weichen. Mit ihrem Film "Alcarràs – Die letzte Ernte" begleitet Carla Simón die vielleicht letzte Ernte, während im Hintergrund der Generationenkonflikt die Familie förmlich zerreißt. Auf der Berlinale 2022 erhielt die katalanische Regisseurin Carla Simón für ihren Film den Goldenen Bären.

Wellinski: Sie haben also auch biografische Details in den Plot eingearbeitet?
Simón: Ja, das ist etwas, was uns sehr wichtig war. Gerade in Spanien ist Landbesitz in der Landwirtschaft ein enormes Debattenthema. Die Besitzstrukturen reflektieren die alten Traditionen und stehen häufig im Gegensatz zu den modernen Bedürfnissen und Plänen der Politik und Wirtschaft.
Großvater Solé findet es zum Beispiel selbstverständlich, dass es nur einen mündlichen Pachtvertrag für ihn gab. So hat es ja über viele Generationen immer funktioniert. Heute braucht es aber schriftliche Verträge, um juristischen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Das ist ein völlig anderer Blick auf Realität und das Leben.

"Am Ende bleibt man eine Familie"

Wellinski: Sie erzählen einen Generationenkonflikt: Die Alten wollen sich nicht ändern. Die Jungen sehen, dass man sich ändern muss. Jeder hat irgendwie recht. Macht es das schwer so eine Geschichte zu erzählen, wenn jeder Standpunkt seine Berechtigung hat?
Simón: So ist das Leben! Jeder hat seine Sicht der Dinge, seine Meinung über denselben Sachverhalt. Somit hat jeder im Film irgendwie recht. Für mich war das sehr interessant. Ich wollte dem Zuschauer keine Meinung aufdrücken. Jede Entscheidung ist in Ordnung. Man muss nur dazu stehen und sie mit vollem Herzen vertreten. Das prägt auch jeden Familienkonflikt. Jedes Mitglied geht seinen eigenen Weg, aber am Ende bleibt man eine Familie.
Eine Familie sitzt im Wohnzimmer lachend beeinander.
"Jeder hat seine Sicht der Dinge": Szene aus Simóns Film "Alcarràs"© Piffl Medien
Wellinski: Sie widmen jedem Mitglied der Familie viel Zeit. Sie erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven. Aber manchmal rennen sie einfach mit den kleinen Kindern der Familie. Die spielen, schreien, lachen. Eine ganz eigene Welt und auch ein ganz eigenes Verständnis von Leben und vom Konflikt.
Simón: Die unterschiedlichen Perspektiven der Familie zu erzählen, war die große Herausforderung des Films. Es sollte ja ein Ensemblestück werden. Da ist die Perspektive der Kinder sehr wichtig, denn sie sehen die Welt anders. Sie haben auch kein Verständnis der Probleme, die die älteren Familienmitglieder haben. Aber sie bringen eine unbändige Energie mit. Außerdem zwingen sie die Familie immer weiter zu machen. Sie erzeugen ein positives Chaos und bringen Leben in die Handlung. So ist das auch beim Drehen selbst. Kinder am Set machen was mit den anderen Darstellern. Diese Energie will ich unbedingt in meinen Bildern einfangen.

Die Darsteller sind tatsächlich Bauern

Wellinski: Sie zeigen aber auch fast dokumentarisch die Arbeit auf der Farm. Sie ist hart und körperlich anstrengend. Wie wichtig war es Ihnen, diesen Aspekt mit zu erzählen?
Simón: Das Publikum sollte wissen, worum es bei dieser Arbeit geht. Ich kenne jeden Handgriff auf so einer Farm. Wie man einen Pfirsich pflückt, wie man ihn weiter transportiert, wie man ihn behandelt. Das sind Details, die ich unbedingt in den Film einbringen wollte. Meine Laiendarsteller mussten das auch nicht lernen, weil sie alle Bauern sind oder waren. Sie müssen nichts spielen. Sie sind eins mit der Arbeit. Ich musste ihnen nichts erklären. Sie kamen ans Set und machten das, was sie immer machen. Das Ergebnis ist eine tolle Natürlichkeit.

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Wellinski: Sie schaffen es aber auch, die Natur und die Landschaft um diese Figuren herum zu erzählen. Das scheint ihnen ja auch wichtig gewesen zu sein.
Simón: Ja, die Landschaft ist die Hauptdarstellerin des Films, denn Familie Solé steht ja kurz davor, dieses Land zu verlieren. Deshalb musste ich einen Weg finden, den Zuschauern zu vermitteln, was die Familie in diesem Stück Land erkennt. Ich wollte diese Landschaft aber nicht romantisieren oder magisch verklären. Man soll aber verstehen, wieso das Herz der Familie Solé an diesen paar Hektar Erde hängt.
Das war eine Herausforderung, weil ich keine poetischen Einstellungen von dieser Region filmen konnte. Das ist aber so ein Impuls, den man als Regisseurin hat. Deshalb war es mir wichtig, auch düstere Aspekte dieser Region zu zeigen.

Eine andere Männlichkeit

Wellinski: Es sind ja gerade die männlichen Figuren in Ihrem Film, die ganz besonders komplex gezeichnet werden. Auf der einen Seite sind sie stur und eitel, auf der anderer Seite gebrochen und unsicher. Sie betrachten diese inneren Konflikte der Männer mit großem Interesse.
Simón: In dieser Umgebung müssen Männer seit Generationen sehr männlich sein. Das wird bis heute von ihnen verlangt. So will es die Tradition. Aber langsam ändert sich das. Viel langsamer als in der Stadt oder anderen Regionen. Deshalb stehen sie ganz besonders vor einer Zerreißprobe. Mir war es auch wichtig, dass die Männerfiguren in meinem Film weinen, und damit eine andere Männlichkeit hervortritt.

Publikumserfolg in Spanien

Wellinski: Sie haben den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen und Ihr Film wurde auch schon in Spanien gezeigt. Wie kam er denn an? Er verhandelt ja ein sehr lokales, wichtiges Thema.
Simón: Der Film und sein Thema wurden in Spanien sehr intensiv diskutiert. Das hat mich gefreut. Aber vor allem kamen viele Menschen ins Kino, die sonst gar nicht mehr ins Kino gehen. Das hat mich begeistert. Mehr noch: Es wurden für diesen Film Kinos wiedereröffnet, die seit Jahren geschlossen hatten. Vor allem in Gegenden auf dem Land, wo das Bedürfnis groß war, diesen Film zu sehen. Das hat funktioniert, weil viele Leute diese Geschichte kennen, aber sich noch nie auf der Leinwand mit ihren Problemen wiedergefunden haben. Das war für mich dann doch der schönste Preis.
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