Album "The Talkies" von Girl Band

Reise in die Angst

05:45 Minuten
Unheimliche Ruine eines verlassenen Hauses am Meer; ein bläuliches Licht liegt auf alten Mauern
Unheimliche Ruine eines verlassenen Hauses am Meer: © picture alliance/chromorange
Von Vincent Lindig · 30.09.2019
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Der Sound der Girl Band speist sich aus dem reichen Erbe des britischen Punk, geht aber weit darüber hinaus. Auf ihrem Album „The Talkies“ weben die fünf Musiker aus Dublin ihre Sounds rund um die Erfahrung psychischer Ausnahmezustände.
Die Noisepunk-Band aus Dublin, Girl Band, ist nicht für konventionelles Songwriting bekannt – auf ihrem ersten Album waren die Stücke zwischen 29 Sekunden und acht Minuten lang. Die Eröffnung des neuen Albums "The Talkies" ist aber wie ein Wegweiser: Das ruhige Atmen, das immer hektischer wird, ist keine Inszenierung – sondern der Sänger Dara Kiely, der nach der abgebrochenen Tour von 2015 versucht, seine Angststörung zu überwinden.
"Wir kamen gerade von der Tour, die wir aus gesundheitlichen Gründen abbrechen mussten. Zurück in Dublin fingen Daniel und ich wieder an zu schreiben, –einfach, um uns zu beschäftigen. Unser Sänger Dara kam dazu und es ging ihm nicht gut. Aber er wollte runterkommen und meinte: 'Ich will wieder Musik machen, habe aber keine Ahnung, wie!' Also schlug ich vor: 'Atme einfach mal, als Anfang'. Das machte er dann und bekam davon eine Panikattacke. Wir waren alle ziemlich betroffen, aber wir behielten die Aufnahme, weil wir dachten: Das könnte ein ziemlich guter Opener sein!"

Assoziationen aus dem tiefen Unterbewusstsein

Die Musik: Bedrückend dicht, verzerrt und unstrukturiert instrumentiert, die Texte nach dem Train-of-thought-Prinzip geschrieben, intuitive Wortfetzen und Assoziationen aus dem tiefen Unterbewusstsein des Sängers Dara Kiely. Oftmals kann er diese Texte selbst nicht erklären oder entschlüsseln. Worte werden zu Lauten und entwickeln über wummernden Gitarrenriffs ein Eigenleben, zischende Höhen peitschen darüber hinweg.

Von Easy Listening ist das meilenweit entfernt und manchmal kann diese Rohheit bedrohlich oder aggressiv wirken. Das Gegenteil trifft zu: Den Songs liegt etwas zu Grunde, das im Punk selten ans Licht tritt und auf dem neuen Album mehr als zuvor heraussticht.
"Da ist eher ein Gefühl von Angst. Vielleicht ist unsere Musik eine Art, diese Angst zu kontrollieren. Sie ist sehr laut und lärmend. Aber du verursachst diesen Lärm selbst und das kann sich wie eine Katharsis anfühlen. Du stehst auf der Bühne und schreist so laut wie du kannst, spielst so laut wie du kannst, Gitarre, Bass oder Schlagzeug. Das kann eine große Erleichterung sein."

Weinkeller wurde zur Halle der Seelen

Für das neue Album haben sich Girl Band ins Ballintubbert House eingenistet, ein georgianisches Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert etwa 100 Kilometer landeinwärts von Dublin. Wegen seiner akkurat gepflegten Gärten, Springbrunnen und kitschigen Zimmer gibt es heutzutage eine beliebte Kulisse für Hochzeiten und Firmenevents ab. Girl Band ließen sich auf ganz eigene Weise von den alten Gemäuern und Kellern inspirieren.
"Es gibt dort diesen großen Weinkeller, der wie ein Echoraum wirkt. Den nannten wir die Halle der Seelen, und er wurde wichtig für die Drums. Wir haben jede Tür des Hauses geschlossen und das aufgenommen, alle Spuren übereinandergelegt. Der große Springbrunnen, der Kühlschrank, ein Auto auf dem Kies vor dem Eingang. Niemand hat je zuvor dort ein Album aufgenommen und wahrscheinlich wird das nie wieder passieren. Also waren wir sicher: Das wird seinen ganz eigenen Sound haben, eine musikalische Repräsentation des Hauses selbst werden."
Girl Band haben in einer beliebten Hochzeitslocation inmitten von Gärten und Springbrunnen ein Album produziert, das oft bedrückend und verstörend klingt. Songs, die wie ein Angriff aus den Wolken herabstoßen, im Grunde aber Versuche der Selbsttherapie sind. Manchmal sind diese Versuche nicht ohne Risiko, wie die Eröffnung belegt.
"The Talkies" von Girl Band ist eine vielschichtige und fordernde Reise ins Innere eines alten Hauses und die Tiefen der menschlichen Seele zugleich. Ein Album für alle, die sich dorthin trauen. Und es dort aushalten.
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