Von Abschied, Tod und Neuanfang

Die zahlreichen Abschiede in seinem eigenen Leben inspirierten Will Sheff, Frontmann des US-Musikprojekts Okkervil River, zu dem Album "Away": Americana mit progressiven Elementen. In einem Song wird die Band zu Grabe getragen. Entstanden ist das Album in den Bergen - mit so manchem Hilfsmittel.
Axel Rahmlow: Abschiede, Umbrüche, Neuanfänge - das sind Themen, die sich wie ein roter Faden durch viele Songs der Popularmusik ziehen und etliche große Songwriter zu besonders intimen Alben inspirierten: "Blood On The Tracks" etwa, die Platte die Bob Dylan 1974 nach einer schmerzhaften Trennung schrieb, und die nicht zu seinen beliebtesten, aber sicherlich persönlichsten Werken gehört. Oder natürlich "For Emma For Ever Ago" von Bon Iver, entstanden in einer einsamen Hütte im Wald, nachdem die ehemalige Band zerbrochen- und die Freundin abhanden gekommen war.
Auch Will Sheff, Sänger des amerikanischen Musikprojekts Okkervil River, hatte in den letzten Jahren mit vielen Veränderungen in seinem privaten und beruflichen Umfeld zu kämpfen. Das hat ihn zum neuen Album "Away" inspiriert, das am kommenden Freitag erscheint. Zunächst aber die Frage an unseren Kritiker Mathias Mauersberger, wer oder was sind Okkervil River überhaupt?
Mathias Mauersberger: Okkervil ist tatsächlich der Name eines Flusses, der in der Nähe von St. Petersburg fließt. Der Name geht allerdings zurück auf eine Kurzgeschichte der russischen Autorin Tatjana Tolstaja, die Will Sheff, den Sänger von Okkervil River während seines Literatur-Studiums sehr faszinierte. Die Band wiederum wurde Ende der 90er in New Hampshire in einem kleinen Dorf von drei Schulfreunden gegründet und bezieht sich auch stark musikalisch auf die amerikanische Musiktradition – Country, Indie-Rock und Folk.
Rahmlow: Einer der Songs auf dem neuen Album "Away" heißt "Okkervil River R.I.P.". Das klingt ja wie eine Todeserklärung. Wollte sich Will Sheff, Sänger von Okkervil River, hier tatsächlich von seinen Fans und Hörern verabschieden?
Mauersberger: Er hat die Songs des neuen Albums tatsächlich in einer für ihn harten und wie er sagt "seltsamen" Zeit geschrieben. 2013 erschien das letzte Album "The Silver Gymnasium", und das klang noch sehr fröhlich, sehr beschwingt. Es ging darauf um Will Sheffs Jugendzeit, seine Adoleszenz in Neuengland. Nach dem Album holte ihn aber sozusagen der Ernst des Lebens ein – seine damaligen Mitmusiker stiegen aus. Er verlor sein Label. Und dann starb auch noch Sheffs Großvater, ein ehemaliger Jazzmusiker, sein großes Jugendidol. Und da stellte sich natürlich die Frage, wie es weitergeht.
Will Sheff saß alleine in den Appalachen
Rahmlow: Offensichtlich hat Will Sheff Okkervil River aber nicht aufgelöst. Wie hat er denn seine Krise gelöst, wie verlief der Weg zum neuen Album?
Mauersberger: Der Weg verlief in die Berge. Will Sheff mietete ein Haus von Freunden in den Catskill Mountains, etwa 160 Kilometer nordwestlich von New York. Und hier brach dann alles aus ihm heraus - er schrieb teilweise 14 Stunden am Tag Songs. Teilweise auch mit kleineren Hilfsmitteln: Ein Song entstand zum Beispiel im Psilocybin-, im Pilzrausch nachts im Wald. Die Texte wiederum sind persönlich: In einem Song geht es um seinen geliebten Großvater und dessen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Im nächsten Song singt Sheff von seinem zwiespältigen Verhältnis zur Musikindustrie.
Rahmlow: Okkervil River mit "The Industry", ein Song über zweischneidige Erfahrungen im Musikbusiness. Will Sheff, Sänger und seit fast 20 Jahren einziges konstantes Bandmitglied dürfte mit der Musikindustrie so seine Erfahrungen gemacht haben - immerhin haben Okkervil River mittlerweile sieben Alben veröffentlicht. Wieviel Autobiografisches steckte denn in diesem Lied?
Mauersberger: Tatsächlich einiges. Okkervil River wurden ja Mitte der Nuller-Jahre für kurze Zeit sehr gehypt, sie waren damals für ein Album beim Majorlabel EMI unter Vertrag. Sie hatten auch ein paar kleine Hits, schafften aber nie den großen Durchbruch. Will Sheff schaut jetzt in diesem Song wehmütig zurück und denkt an die gute alte Zeit, als er Musik wirklich noch aus Leidenschaft gemacht hat, und damit noch kein Geld verdienen musste.
Rahmlow: Bei solchen Themen scheint es ja zu passen, dass Will Sheff sich fürs Songschreiben in ein einsames Haus im Wald zurückgezogen hat: Wie hat sich denn nun das Umfeld, in dem die Songs entstanden sind – die Berge, die Natur – auf die Atmosphäre und den Charakter der Stücke ausgewirkt?
Mauersberger: Es klingt vielleicht klischeehaft, aber man kann sich beim Hören tatsächlich vorstellen, wie Will Sheff alleine in den Appalachen saß und ganz in sich versunken auf seiner Akustikgitarre geklimpert hat. Die Songs sind sehr ruhig, sehr intim, zum Teil auch skizzenhaft, fast alle über sechs Minuten lang. Und auch die Umgebung macht sich bemerkbar: Man hört beispielsweise ein Windspiel leise vor sich hin klimpern, im Hintergrund zwitschern Vögel. In den Texten wiederum ist immer wieder von Seen, Bäumen, Flüssen die Rede. Es geht also auch hier um die Natur als Rückzugsort, was ja ein uraltes romantisches Symbol ist und wiederum zu den Themen der Platte passt.
Ist dies das letzte Okkervil-Album?
Rahmlow: Das klingt ja recht konventionell und fast ein wenig bieder. Okkervil River waren aber immer eine Band, die – neben den durchaus "klassischen" Americana und Folk-Einflüssen - eine progressive Haltung verkörpert hat. Will Sheff hat in Interviews immer wieder Einflüsse wie Lou Reed oder The Velvet Underground genannt, er hat Literatur studiert, selber mal als Musikjournalist gearbeitet. Was ist davon übrig geblieben?
Mauersberger: Gott sei Dank noch einiges! Auch die neuen Songs sind nicht einfach nur Folksongs, sondern man hört hier Elemente aus dem Psychedelic Rock der 60er, sogar aus moderner Klassik: Will Sheff hat zum ersten Mal mit einem Streich-Ensemble zusammengearbeitet, das immer wieder wabernde, hypnotische Klangteppiche ausbreitet. Seine neuen Mitmusiker kommen aus der New Yorker Avantgarde- und Jazz-Szene. Und auch in den Texten geht es nicht nur um Naturbeschreibungen, sondern immer wieder um Beziehungen und das urbane Leben.
Rahmlow: "Okkervil River Rest In Peace", so hieß der Song, den wir vorhin gehört haben. In dem Will Sheff seine eigene Band sozusagen zu Grabe trägt. Wie ist denn nun der Stand, ist dies das letzte Okkervil River-Album? Was kommt nach "Away"?
Mauersberger: Das konnte ich leider nicht herausfinden. Wir haben versucht, Will Sheff zu einem Interview zu überreden, leider ohne Erfolg. Er selbst sagte aber, dass dieses neue Album tatsächlich sein Lieblingsalbum sei, und das lässt ja zumindest auf eine weitere Zukunft hoffen. Auf jeden Fall ist "Away" nicht nur ein Bruch in der Geschichte dieser Band und der Karriere von Will Sheff – das Album ist auch ein Befreiungsschlag. De facto gibt es diese Band nicht mehr und hier beginnt dann die Karriere des Solomusikers Will Sheff, von dem man noch einiges erwarten darf. Hoffen wir mal, dass er auch in Zukunft so starke Inspirationen findet wie auf diesem Album, "Away".
Rahmlow: Dann bedanke ich mich für das Gespräch, Mathias Mauersberger. Am 4. November kommen Okkervil River dann auch immerhin für ein Konzert nach Deutschland, spielen auf dem Rolling Stone Weekender.