Album "All Melody" von Nils Frahm

Musik als Wellness-Oase

Nils Frahm bei einem Konzert im Funkhaus Berlin in der Nalepastraße
Nils Frahm bei einem Konzert im Funkhaus Berlin in der Nalepastraße © imago stock&people
Von Rainer Pöllmann · 26.01.2018
Sanft und anschmiegsam: So klingt "All Melody", das neue Album des Pianisten und Komponisten Nils Frahm. Besonders reich an neuen Melodien ist die Platte nicht, meint unser Kritiker Rainer Pöllmann. Frahms Musik sei reiner Eskapismus - und habe mit Klassik nichts zu tun.
Nichts weniger als die Menschheit hat sich Nils Frahm mit seinem neuesten Album vorgenommen. "Human Range" heißt ein Titel, "Fundamental Values" ein anderer. Welche "Grundwerte" genau thematisiert werden? Der Künstler hüllt sich in Schweigen. Eine quantitative Analyse des Titels kommt aber immerhin zu dem Ergebnis, dass auch in diesen krisengeschüttelten Zeiten die Menschheit nicht so arm an Werten ist wie der Komponist an musikalischen Einfällen.
Da ist ein anderer Titel viel aussagekräftiger "Forever changeless". Keine Veränderungen, keine Überraschungen, immer das Gleiche bis in alle Ewigkeit. Ja, das ist doch mal eine schöne Aussicht. Der Song klingt sanft, anschmiegsam, einlullend, garantiert ohne Haken oder gar Widerhaken – musikalische Schleifenbildung in angenehmer Atmosphäre. So präsentiert sich Nils Frahm auf "All Melody". Wobei der Albumtitel sogar ein bisschen irreführend ist. Alles ist sehr harmonisch, aber dass die CD mit unerhörtem Melodiereichtum beeindrucke, kann man wahrlich nicht behaupten. Das Ganze ist der reinste Eskapismus. Die böse Welt bleibt draußen, von Krieg, Gewalt, Terror und Sexismus im wirklichen Leben ist nichts zu hören. Musik als Wellness-Oase.

Nun gibt es gegen Musik für den Fahrstuhl, für das Kaufhaus oder für die Kneipe wenig zu sagen. "Muzak" hieß das früher, anspruchslose Gebrauchsmusik, eingesetzt für einen bestimmten (und garantiert nicht musikalischen) Zweck. Was so unendlich nervt – und was mittlerweile einen Elementarschaden im Wertesystem bei der Beurteilung von Musik angerichtet hat –, ist die Bildungshuberei, das Sich-Ranwanzen an die Hochkultur, das neuerdings gerade die Vertreter der allerbanalsten Gebrauchsmusik pflegen und mit dem Label "Neo-Klassik" adeln.
Da wird die "Klassik" von ihren Verächtern so gern als gestrig denunziert, um sie bequem abwatschen zu können. Als Fahrstuhl zu den höheren Weihen des "Künstlertums" ist die "Klassik" aber dann doch sehr willkommen. Beziehungsweise das, was Leute, die von klassischer Musik keine Ahnung haben, so unter "Klassik" verstehen (wollen).

"Neo-Klassik" - wenig raffiniert oder experimentell

Ob Nils Frahm oder Francesco Tristano oder auch Hauschka – sie alle legen größten Wert darauf, dass sie "ausgebildete" Pianisten sind. Was auch immer das im Einzelnen bedeutet. Wahrscheinlich können die meisten sogar ganz passabel Klavier spielen, auch wenn man davon in der Regel nicht allzu viel hört. Von der Kunst eines Alfred Brendel oder Friedrich Gulda oder Vladimir Horowitz sind sie trotzdem Lichtjahre entfernt.
Was ist eigentlich das Klassische an der Neo-Klassik, dieser angeblichen Fusion aus musikalischer Romantik und experimenteller Elektronik? Was die Romantik angeht: Mit der Raffinesse von Schubert oder Chopin oder Berlioz oder Brahms hat die musikalische Einfalt nicht das Geringste zu tun. Und das Experimentelle? Da wird es noch schlimmer.
Da kleben Pianisten Filze auf die Klavierhämmer – und kommen sich revolutionär vor. Sie zupfen an den Saiten im Inneren des Flügels – und denken, sie hätten einen neuen Kontinent entdeckt. Sie verwenden ab und zu mal eine kleine Dissonanz – und erzittern ob ihrer eigenen Kühnheit. Alle gelten als wahnsinnig "innovativ und experimentierfreudig". Und haben offenkundig nicht die geringste Ahnung davon, wie experimentell es in der Musik in den letzten hundert Jahren zuging. Das, liebe Freundinnen und Freunde der Neo-Klassik, ist "experimentell", auch noch nach einem halben Jahrhundert.

Herausforderungen der Klassik werden gemieden

Der Titel "My Friend the Forest" wurde hoffentlich gesponsert von Peter Wohlleben ("Das geheime Leben der Bäume") Wohlleben und der Zeitschrift Landlust. Die dpa zieht da übrigens den etwas abenteuerlichen Vergleich mit Keith Jarrett. Mir fällt bei diesem Titel eher die Bass Line auf. Eine absteigende Linie, entfernt verwandt mit dem, was seit dem Barock als "Passus duriusculus" bekannt ist und früher gerne für Passionen und die Darstellung des Leidens verwendet wurde (das Leiden der Hörer war damit nicht gemeint).
Aber das hieße jetzt vielleicht doch, das "Klassische" in der "Neo-Klassik" allzu ernst zu nehmen. Ist doch nur ein Schlagwort, das einem von der Hochkultur den Distinktionsgewinn sichern soll, ohne dass man sich ihren Herausforderungen wirklich aussetzen müsste. "You don’t have to call it music, if the term shocks you", hat John Cage einmal gesagt – auch einer der gründlich missverstandenen Säulenheiligen der "Neo-Klassik". In diesem Sinn: "You should not call it 'classical' when the term is too pretentious."
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