Akzelerationismus

Ist Hyperbeschleunigung die Lösung?

Sprinter bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2013 in Moskau
Dynamik, Kraft und Schnelligkeit wie bei diesen Leichtathleten − das gefällt den Anhängern der "akzelerationistischen" Philosophie. © dpa / picture alliance / EPA / Kerim Okten
Von Svenja Flaßpöhler · 22.12.2016
Achtsamkeit, Biokost und ein Haus in der Uckermark − dem Akzelerationismus sind solche elitären lokalen Utopien ein Graus. Diese von französischen Philosophen inspirierte Strömung verlangt Beschleunigung und will die egalitäre Gesellschaft.
Was will der Akzelerationismus, wogegen wendet er sich? Er ist gegen Entschleunigung, Ökoromantik, veraltete Protestformen wie zum Beispiel Occupy, gegen "kritischen Analphabetismus" in Sachen Technologie, den Achtsamkeitskult und die Gegenwartsfixierung.
Stattdessen propagiert er Beschleunigung, Automatisierung, die Aneignung moderner Technologien, das Einswerden des Menschen mit der Maschine. Der Akzelerationismus will die Gegenwart von der Zukunft her denken. Den Kapitalismus zu bekämpfen lehnt er ab, da dies ohnehin nicht möglich sei. Lieber will er dessen Dynamiken und Kräfte nutzen.

Polymorphe Perversion

Welche philosophischen Strömungen liegen diesem Denken zugrunde? Zu nennen wäre hier insbesondere die französische Philosophie, etwa Michel Foucault: "Es gibt kein Jenseits der Macht." Foucault folgend, müssen wir dem libidinösen Reiz der kapitalistischen Waren nicht widerstehen; gerade aus dem Hingeben entsteht die Kraft. Oder denken wir an die "Wunschmaschine" von Gilles Deleuze und Félix Guattari: Sie wollten den Menschen nicht vom Mangel, sondern von der Lust her denken. "Polymorphe Perversion" statt Lustunterdrückung und Unterwerfung!
Inwiefern ist das eine Utopie? Der Akzelerationismus will weg von elitären lokalen Enklaven. Das sind etwa das Haus in der Uckermark, ethischer Konsum, Bioläden in Berlin-Prenzlauer Berg als Hort der Besserverdienenden. Er will hin zu einer wahrhaft egalitären Gesellschaft, das heißt zur Freiheit von Lohnarbeit (die mit Entfremdung gleichgesetzt wird), er will die vollständige Automatisierung der Wirtschaft, das Grundeinkommen, die Etablierung eines anderen Verhältnisses zur Arbeit.

Wer programmiert die Maschine?

Doch natürlich stößt der Akzelerationismus auch auf Kritik. Richtig ist zunächst: Wir können die Automatisierung und Digitalisierung nicht rückgängig machen. Aber: Was ist denn authentische, nichtentfremdete Arbeit? Eine alte linke Frage bleibt ungelöst: Geht es um die Befreiung von Arbeit oder um die Befreiung durch Arbeit? Wird eine Welt, in der Maschinen die Arbeit erledigen, automatisch egalitär sein? Wer programmiert, wer steuert die Maschine?
Und ist der digitalisierte Mensch ein politisch Handelnder im Sinne Hannah Arendts? Oder doch eher ein Daddelfreak, der sich ins Virtuelle flüchtet? Beim Blick in die Gegenwart stellt sich auch diese Frage: Postfaktizität, Verschwörungstheorien, Filterbubbles – führt uns die Digitalisierung wirklich in eine bessere Welt?
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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