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26.06.2011
Es waren nur wenige Jahre, die Krzysztof Kieslowski als Regiestar blieben. 1988 wurde er mit "Ein kurzer Film über das Töten" weltberühmt, doch schon 1996 starb er überraschend mit 54 Jahren. Zu seinem 70. Geburtstag am 27. Juni stellen wir eine DVD-Sammlung mit frühen Filmen vor.
Die Narbe

"Herr Vorsitzender, Bürger. Ich höre der Diskussion zu, und ich muss sagen, dass ich enttäuscht bin. Ich spreche von unserem Wald. Schon jetzt sind wir Zeugen der Verwüstung, die uns die noch nicht gebaute Fabrik gebracht hat. Was kommt noch?"

In einer kleinen Stadt wird ein Chemiekombinat gebaut. Aber die Bürger sind dagegen und wehren sich lautstark. Die Parteiführung reagiert mit Unverständnis:

"Merkwürdig, in euren Aussagen höre ich private Interessen. Euch fehlt die Übersicht. Ihr habt keine allgemeine Sicht auf die Entwicklung der Stadt. Nur alte Gewohnheiten, die den Fortschritt verhindern."

Krzysztof Kieslowski erzählt in "Die Narbe" von bürokratischer Fehlplanung, der Arroganz der Macht und dem Versuch einzelner, dagegen anzukämpfen. Dokumentarisch zeichnet die Kamera die Umweltzerstörung auf, der Verfall der Häuser in der Stadt ist mit drastischen Bildern eingefangen. Jahrlang hat Kieslowski Dokumentarfilme gedreht, bevor er 1976 mit "Die Narbe" seinen ersten Kinofilm realisiert.

In seinem frühen Werk reflektiert Kieslowski den Versuch, innerhalb der engen Grenzen für die eigenen Vorstellungen einzutreten. So auch in seinem ersten internationalen Erfolg "Der Filmamateur" von 1979. Ein Arbeiter legt sich eine Filmkamera zu und wird als Dokumentarfilmer entdeckt. Als er Fortschritte im Wohnungsbau dokumentieren soll, gerät er in Konflikt mit der Obrigkeit:


Der Filmamateur

"Ich habe mich nicht geirrt. Ich habe es so gefilmt, wie es ist. Die Gebäude wurden von hinten nicht verputzt. Egal, dass Menschen im Mist leben, Hauptsache, die Fassade ist schön."

Auch im "Filmamateur" zeichnet Kieslowski ein präzises Panorama polnischer Wirklichkeit. In den Siebzigerjahren zählt er zur Regie-Generation der sogenannten "moralischen Unruhe", deren Credo es ist, die unverfälschte Wirklichkeit ins Kino zu bringen. Anfang der Achtzigerjahre, mit Verhängung des Kriegsrechts in Polen, verändert sich Kieslowskis Blick – stärker vom gesellschaftspolitischen Engagement seiner Helden zur individuellen Tragödie. In "Der Zufall möglicherweise" von 1981 wird die Erzählung zur philosophischen Reflexion. Kieslowski lässt den jungen Helden drei verschiedene Varianten seines Lebens durchlaufen – einmal als Oppositioneller, dann als unpolitischer Karrierist, und in einem Handlungsstrang wird er von einem kommunistischen Parteifunktionär angeworben:


Der Zufall möglicherweise

"Bei uns ist gerade der Moment, in dem alles zerbricht. Die Regierenden sind hilflos, die Strukturen müssen reißen. Es dauert nicht mehr lange. Du musst drin sein, von außen kann man nichts verbessern. Wenn alles am Boden ist, muss es jemand aufrichten."

Kieslowski spielt hier die Möglichkeitsformen des Lebens durch. Nur der Zufall – ein verpasster Zug – lässt das Leben des Helden in vollkommen andere Bahnen laufen. Für sein Gedankenexperiment findet Kieslowski eine filmische Form, die das klassische Erzählen sprengt und viel Nachahmung finden wird. Trotzdem ist wie immer bei Kieslowski die gesellschaftliche Situation präzise getroffen, "Der Zufall möglicherweise" wird sofort verboten. In den folgenden Jahren kann Kieslowski nur einen Film verwirklichen: "Ohne Ende". Dariusz, einem jungen Arbeiter, wird wegen Teilnahme an einem Streik der Prozess gemacht. Nach dem Tod seines engagierten, jungen Anwalts Antek übernimmt der resignierte Jurist Labrador den Fall. Der rät seinem Klienten zunächst, politische Motive vor Gericht zu leugnen. Aber Dariusz bleibt standhaft - und Labrador ist beeindruckt:


Ohne Ende

"Ein großartiger Junge. Ich habe Mörder und Diebe verteidigt, sie wollten alle freikommen. Und dieser ehrliche Junge will es nicht. Seine Einstellung ist vielleicht nicht für den Prozess förderlich. Aber die Menschen wollen besser, mutiger sein. Nur, wir wissen nicht wie. Jemand muss es vormachen."

"Ohne Ende" von 1985 trägt melancholische Töne. Der tote Anwalt Antek tritt im Hintergrund auf, seine Witwe bringt sich schließlich um. Das Schlussbild zeigt ihre Vereinigung – so, als sei Glück nur im Tod möglich. Gegen den Film laufen nicht nur die Regierung, sondern auch Kirche und Opposition Sturm. Zu depressiv erscheint hier der Widerstand, doch Kieslowski hat mit "Ohne Ende" ein Meisterwerk des komplexen Erzählens geschaffen. Wie in den anderen drei Filmen ist Kieslowski auch hier treffsicherer Chronist seiner Zeit, dazu ist vieles im ausführlichen Booklet der DVD-Box zu erfahren. Der Film trifft atmosphärisch das Zeitgefühl einer Gesellschaft in Stagnation, in der eine intellektuell aufgeschlossene Opposition den Umbruch ersehnt und gleichzeitig fürchtet. Die Filme aus Kieslowskis Frühwerk sind unserer Zeit wieder nahe gerückt.

Besprochen von Christian Berndt

Krzysztof Kieslowski: Frühe Spielfilme
DVD-Box mit vier Spielfilmen
absolut Medien (2009)
49,90 Euro.