Aktivistin Sigrid Arnade

Eine Triage von Menschen mit Behinderung darf es nicht geben

29:27 Minuten
Illustration einer Waage aus Menschen auf blauem Hintergrund.
Im Falle einer Triage muss für das eine und gegen das andere Leben entschieden werden - Aspekte wie Behinderungen dürfen dabei keine Rolle spielen, fordert Sigrid Arnade. © imago images / Tim Ellis
Moderation: Susanne Führer · 18.04.2020
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Falls nicht alle Patienten intensivmedizinisch versorgt werden können, haben Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen weniger Chancen, behandelt zu werden. Das legen ärztliche Empfehlungen nahe. Ein Skandal, meint Sigrid Arnade.
Seit Beginn der Coronapandemie geht die Angst um, dass so viele Menschen schwer erkranken, dass sie nicht alle intensivmedizinisch versorgt werden können. Dann muss ausgewählt werden, welche Patienten behandelt werden und welche nicht. Das nennt man Triage.
Eine gesetzliche Regelung für diesen Fall gibt es nicht. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, ISL, kritisiert:
"Die Politik kann sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen. Das geht doch nicht! Ansonsten wird über Abtreibung, über Sterbehilfe im Parlament gerungen. Da wird der Fraktionszwang aufgehoben, das sind die Sternstunden des Parlaments. Das ist ja auch die Aufgabe unserer Volksvertreter, unsere Würde, unser Leben zu schützen."
Vor wenigen Wochen haben einige medizinische Fachgesellschaften Empfehlungen für den Fall einer Triage vorgelegt. Danach sollen diejenigen Patienten behandelt werden, bei denen für die Behandlung eine gute Erfolgsaussicht besteht. Zu den Kriterien für eine schlechte Erfolgsaussicht zählen die Fachgesellschaften auch "allgemeiner Gesundheitsstatus, Gebrechlichkeit".
Um den Grad der Gebrechlichkeit zu messen, gibt es eine Gebrechlichkeitsskala, die Clinical Frailty Scale. Es gibt neun Stufen, von 1 "sehr fit", bis 9 "terminal erkrankt". "Diese Gebrechlichkeitsskala beruht auf einem vollkommen veralteten Bild von Beeinträchtigung und Behinderung", kritisiert Arnade, die selbst auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

Gibt es "unwertes Leben"?

"Ich habe mal geguckt: Wo liege ich denn auf dieser Skala? Ich bin bei Nummer 7, also, auf Assistenz angewiesen im Alltag, alleine kann ich nicht leben. Und es ist nicht zu befürchten, dass ich innerhalb der nächsten sechs Monate sterben werde. Aber wenn ich Gebrechlichkeitsskala 7 habe, habe ich verdammt schlechte Chancen, noch behandelt zu werden, wenn die Ressourcen knapp werden."
Sigrid Arnade meint, in den Empfehlungen werde implizit nach "lebenswert", und "lebensunwert" unterschieden. "Daher lehnen wir, also Menschen mit Beeinträchtigungen, den Vorschlag vehement ab."
Eine entsprechende Stellungnahme sei an die medizinischen Fachgesellschaften wie an den Deutschen Ethikrat gegangen, eine Reaktion habe es bisher nicht gegeben.

Auch in anderer Hinsicht legt die Coronakrise offen, dass wir immer noch in einer exklusiven und nicht in einer inklusiven Gesellschaft leben, meint die Aktivistin Arnade. So habe man anfangs vollkommen vergessen, die Informationen zur Coronapandemie barrierefrei zugänglich zu machen, also auch für blinde und sehbehinderte Menschen, in Gebärdensprache oder in leichter Sprache. Das habe sich inzwischen zwar etwas gebessert, aber erst, nachdem die entsprechenden Verbände protestiert hätten.
Weiteres Beispiel: Die Behindertenwerkstätten, die allesamt geschlossen worden sind. "Das ist auch eins der Probleme, die nicht von vornherein mitbedacht worden sind. Die behinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Werkstätten bekommen natürlich auch kein Kurzarbeitergeld."

Menschen mit Behinderung wurden vergessen

Und niemand weiß, was nun mit den Menschen geschieht. Nicht alle seien auf Betreuung angewiesen, aber doch viele. Wer soll das leisten?
"Darüber hat sich niemand im Vorfeld Gedanken gemacht. Das sind ja keine Einzelfälle. Das sind 300.000 Menschen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten."
Menschen mit Beeinträchtigungen werden weder bedacht noch zu Rate gezogen, wie man auch am Gremium der Leopoldina sehen könne.
"Wenn man in unserer vielfältigen Gesellschaft Konzepte macht, die für alle gelten, dann müssten auch alle Perspektiven mitgedacht werden. Menschen mit Behinderungen machen ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung aus. Das ist eine riesige Menge. Die kann man nicht einfach vergessen."
(sf)

Das Interview im Wortlaut:
Fast acht Millionen Menschen in Deutschland gelten als schwerbehindert. Vielen von ihnen macht Corona besonders zu schaffen. Warum das so ist und was die Gesellschaft dagegen tun sollte, darum geht es im Gespräch mit Dr. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind auf den Rollstuhl und auf Assistenz angewiesen. Wie hat sich Ihr Leben durch Corona verändert?
Arnade: Eigentlich wäre ich im Moment in Afrika und würde meine Stieftochter und unsere Enkel mit meinem Mann besuchen. Zum Glück sind sie inzwischen wieder in Deutschland und seit zwei Tagen aus der Quarantäne raus. Ansonsten hat sich so viel nicht verändert, außer dass ich meine 90-jährige Mutter, die im Pflegeheim in Bonn lebt, nicht mehr besuchen darf. Wir telefonieren täglich, aber es ist schon was anderes. Das macht mir ziemlich zu schaffen.
Außerdem natürlich die Befürchtung: Was ist, wenn zum Beispiel mein Mann, der hauptsächlich die Assistenz bei mir macht, ausfällt? Wir waren zum Beispiel vor zwei Tagen einen halben Tag im Bundeswehrkrankenhaus, weil er den Verdacht auf einen Armbruch hatte. Was passiert dann? Wie geht das dann? Solche Dinge treiben mich um.
Deutschlandfunk Kultur: Haben Sie noch andere Assistenten, die für Sie arbeiten?
Arnade: Es macht hauptsächlich mein Mann, aber ich habe auch andere. Aber die dürfen dann ja auch nicht ohne Weiteres zu mir. Das ist generell für behinderte Menschen ein Problem. Wie kriegen sie das mit ihren Assistenten geregelt? Können Assistenten noch kommen? Es gibt auch ein Problem für Menschen, die von osteuropäischen Kräften häuslich betreut werden. Können die kommen? Wollen die kommen? Lässt man sie aus Polen oder Rumänien oder, wo auch immer sie zu Hause sind, wieder raus? Es war schon immer ein großes Problem, wenn Menschen mit Behinderung ins Krankenhaus mussten, dass die Assistenz im Krankenhaus sichergestellt wird. Das ist jetzt ein noch größeres Problem geworden.

Nicht barrierefreie Coronainformationen

Deutschlandfunk Kultur: Sie benötigen die Assistenz ja bei der Unterstützung von körperlichen Belangen. Bisher dürfen die Assistenten noch kommen und tragen dann Mundschutz, nehme ich an, und Handschuhe usw. Aber was wäre, wenn entweder Sie sich infizieren oder einer Ihrer Assistenten?
Arnade: Dann gibt es ein Problem. Aber grundsätzlich denke ich erstmal positiv, es wird schon gut gehen. Und wenn irgendwas passiert, bin ich kreativ genug, mir Lösungen einfallen zu lassen. Aber es ist ganz grundsätzlich ein großes Problem für viele behinderte Menschen in dieser Zeit, weil eben auch die Maßnahmen, die getroffen worden sind, nicht barrierefrei getroffen worden sind und Menschen mit Beeinträchtigung, die ganze Diversität dieser Gesellschaft, nicht mitgedacht worden ist.
Zum Beispiel werden die ganzen Informationen in der Coronakrise nicht barrierefrei vermittelt. Die Websites, auf denen man sich erkundigen kann, sind nicht barrierefrei. Wenn es irgendwo Pressekonferenzen gibt, sind sie in der Regel nicht mit Gebärdensprache und schon gar nicht mit Untertiteln versehen. So allmählich wird das gemacht. Die Gehörlosenverbände sind sehr aktiv geworden, so dass das Robert-Koch-Institut zum Beispiel jetzt grundsätzlich mit Gebärdensprache informiert. Aber es ist noch nicht durchgängig und selbstverständlich. Es ist immer zunächst ein Problem, und dann wird eventuell nachjustiert.
Deutschlandfunk Kultur: Im März hatte der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, beklagt, dass die lebenswichtigen Informationen zum Coronavirus weder in Gebärdensprache noch in leichter Sprache vermittelt worden sind. Ich habe mal ein bisschen gesucht: In leichter Sprache etwas zu finden, ist nicht so leicht.
Arnade: Ja, das stimmt. Das würde zur Barrierefreiheit dazu gehören, bei den Websites zum Beispiel. Die müssten barrierefrei sein, damit auch Blinde, sehbehinderte Menschen sie wahrnehmen können. Die Informationen müssten in leichter Sprache vorgehalten werden und in deutscher Gebärdensprache. In Nordrhein-Westfalen wird das zum Beispiel inzwischen gemacht. Aber es ist keine durchgängige Praxis. Es gibt ein nicht-inklusives Denken. Erst, wenn es ganz viel Druck, viele Presseerklärungen und viele Skandalisierungen gibt, dann passiert hier und da was. Aber es wird nicht durchgängig von vornherein mitgedacht, es wird nicht an alle Bevölkerungsgruppen gedacht.

Behindertenwerkstätten wurden vergessen

Deutschlandfunk Kultur: Hinzu kommt ja, dass die Behindertenwerkstätten allesamt geschlossen worden sind, die Förderschulen auch, und sich für viele Angehörige die Frage stellt: Wer kümmert sich jetzt um die Betroffenen? Wer betreut sie?
Arnade: Genau. Das ist wiederum auch eins der Probleme, die nicht von vornherein mitbedacht worden sind. Und die behinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Werkstätten kriegen natürlich auch kein Kurzarbeitergeld. Wer kümmert sich um sie? Zunächst galt ja, dass die Eltern von schulpflichtigen Kindern bis zu zwölf Jahren, die zu Hause bleiben, einen Lohnersatz bekommen. Aber was ist mit Kindern über zwölf Jahren? Inzwischen ist nachjustiert worden, bei behinderten Kindern gibt es den Lohnersatz auch bei älteren Kindern, also nicht nur bis zwölf Jahre.
Aber Sie fragen ganz richtig. Was ist mit den Menschen in den Werkstätten für behinderte Menschen? Das sind keine Kinder. Die sind nicht schulpflichtig. Trotzdem sind viele von ihnen auf Betreuung angewiesen. Wer soll das leisten? Darüber hat sich niemand im Vorfeld Gedanken gemacht. Das sind ja keine Einzelfälle. Das sind 300.000 Menschen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten. Die brauche nicht alle eine Betreuung, aber doch ganz viele.


Deutschlandfunk Kultur:
Dann kommt ja noch dazu, dass auch viele Hilfen und Therapien wegfallen, Physiotherapie, Ergotherapie, Reittherapie. Ich habe den Eindruck, dass die Einrichtungen für Behinderte anfangs schlicht von der Politik vergessen worden sind. Es gab ein Schutzkonzept für Altenheime, aber nicht für Einrichtungen für Behinderte.
Sigrid Arnade, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, ISL
Sigrid Arnade: "Wenn man in unserer vielfältigen Gesellschaft Konzepte macht, die für alle gelten, dann müssten auch alle Perspektiven mitgedacht werden."© Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Arnade: Ja, das ist richtig. Es ist ganz vieles nicht bedacht worden. Es musste ja auch sehr schnell reagiert werden und viele unterschiedliche Lebenslagen mussten bedacht werden. Aber diese riesige Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen ist leider nicht berücksichtigt worden. Auch nicht in den Beratungsgremien. Der wissenschaftliche Beirat der Leopoldina, der die Empfehlungen zur Exitstrategie aufgestellt hat, ist auch wieder ein Gremium, in dem viele verschiedene Perspektiven nicht mit einbezogen worden sind. Das sind hauptsächlich alte, weiße Männer, die da geredet haben, von 26 Personen nur zwei Frauen. Also, Geschlechtergerechtigkeit ist schon mal nicht gegeben, geschweige denn, dass dort behinderte Menschen einbezogen werden oder Menschen mit anderen Herkunftsländern, anderer Religionen und anderer sexueller Orientierung. Das wird alles eben nicht genügend mitgedacht.
Wenn man in unserer vielfältigen Gesellschaft Konzepte macht, die für alle gelten, dann müssten auch alle Perspektiven mitgedacht werden. Damit nicht das passiert, was jetzt geschehen ist. Menschen mit Behinderungen machen ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung aus. Das ist eine riesige Menge. Die kann man nicht einfach vergessen.

"Menschen sind ja sehr empfänglich für Sündenböcke"

Deutschlandfunk Kultur: Auf Twitter hieß es so schön, in der Gruppe der Leopoldina sind mehr Thomas‘ vertreten als Frauen.
Sie gelten als Rollstuhlfahrerin, glaube ich, als besonders gefährdet, was das Coronavirus angeht. Sehen Sie sich auch als besonders gefährdet?
Arnade: Nein, ich sehe mich persönlich überhaupt nicht als besonders gefährdet, denn ich habe ein hyper-aktives Immunsystem. Insofern denke ich, dass ich eine Coronainfektion gut überstehen würde. Aber ich gehöre natürlich in dem allgemeinen Bild zu einer sogenannten Risikogruppe. Und ich wehre mich gegen dieses Wort, gegen diese Begrifflichkeit der "Risikogruppen", zu denen ältere Menschen zählen, zu denen auch behinderte Menschen zählen, denn Risikogruppen kann man in zwei Richtungen interpretieren.
Zum einen sind dabei natürlich, das will ja niemand in Abrede stellen, viele Menschen, die ein besonders hohes Risiko haben, einen schweren Verlauf der Erkrankung zu haben. Aber andererseits kann man Risikogruppe auch sehen als Risiko für die Gesellschaft. Das ist meine Befürchtung, dass jetzt die ganzen negativen Folgen der Coronakrise, also, dass das ganze Leben runter gefahren wird, dass Menschen in existenzielle Nöte kommen, in psychische Krisen kommen, dass die Wirtschaft tief in den Keller geht, dass das alles dann diesen Risikogruppen angelastet wird. Menschen sind ja sehr empfänglich für Sündenböcke. Und dann haben wir doch schnell ein paar Sündenböcke bereit, nämlich die älteren Menschen und die behinderten Menschen.
Das ist die Gefahr, die ich sehe. Und ich würde deshalb...
Deutschlandfunk Kultur: …wegen dieses Begriffs Risikogruppen?
Arnade: Ja, wegen des Begriffs der Risikogruppen. Ich denke, man sollte eher von Personen sprechen, die besonders gefährdet sind, oder von vulnerablen Gruppen, aber nicht von Risikogruppen.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, das ist ja doch ein ziemlich eingeführter Begriff, wenn man an manche beispielsweise Ernährungsempfehlungen denkt: Käse aus Rohmilch, Risikogruppen sind Schwangere, alte Menschen usw.
Arnade: Ja. Aber ich fürchte, in dieser besonderen Situation, wo eben alle davon betroffen sind, und dann wird immer auf diese Risikogruppen abgestellt: "Um die Risikogruppen zu schützen, müssen wir zu Hause bleiben und dürfen nicht arbeiten gehen und müssen diese und jene Beschränkungen unserer Grund- und Freiheitsrechte in Kauf nehmen." Da können sich doch ganz schnell auch Wut und Aversion gegen diese sogenannten Risikogruppen bilden: "Wenn wir die nicht hätten, dann könnten wir unser altes normales Leben weiterführen."
Ich fürchte eben, dass das zu einer Stigmatisierung und Ablehnung führt und auch zu einer weiteren Exklusion. Wir versuchen ja immer, die Gesellschaft zu einer inklusiven Gesellschaft umzugestalten. Und ich fürchte, solche Dinge führen eher zu einer Spaltung.

Stärkere Einschränkungen für einige?

Deutschlandfunk Kultur: Darüber wird ja genau gerade diskutiert, ob man bestimmten Gruppen, den sogenannten Risikogruppen, also den vulnerablen Gruppen, härtere Einschränkungen zumuten darf als dem Rest der Bevölkerung. – Was meinen Sie dazu?
Arnade: Ich denke, das geht überhaupt nicht. Denn dann wird man gleich wieder so in Sippenhaft genommen. Ich denke, das ist wirklich gut an diesem Papier der Leopoldina, in dem es heißt: Es geht nicht, dass man ganzen Gruppen von Menschen Freiheitsrechte entzieht und sie anderen gibt. Und das Ganze angeblich zu deren Schutz. Das ist ein bevormundender Paternalismus und das geht nicht. Das sehe ich auch so.
Wir leben in einer Gesellschaft mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Die Menschen wissen ja um ihre Gefährdung. Menschen, die vielleicht besonders empfänglich sind, wissen doch selber: Ich habe ein eingeschränktes Lungenvolumen. Oder: Ich habe eine Immunschwäche oder dies oder das. Ich muss besonders aufpassen. – Und die passen dann auch besonders auf.
Deshalb braucht der Staat doch nicht jetzt alle älteren Menschen oder alle behinderten Menschen einzusperren.
Deutschlandfunk Kultur: Die Argumentation geht ja ein bisschen anders. Wolfgang Janisch von der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel hat das genannt: "Die Alten verschenken ihre Freiheit an die Jungen." Weil ja dramatische Folgen für die Volkswirtschaft befürchtet werden – mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut für sehr, sehr viele Menschen – lautet die Argumentation: Können nicht einige Leute, sagen wir mal, für einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen etwas mehr verzichten als die anderen?
Da sagt ja selbst die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, das sei eine pragmatische Abwägung und keine Diskriminierung.
Arnade: Man kann mit Sicherheit Empfehlungen aussprechen. Ich denke auch, die meisten Leute sind vernünftig genug, sich an die Empfehlungen auch zu halten. Das sieht man jetzt ja auch, dass die Zahl der Infektionen viel schneller zurückgegangen ist, als das von den Experten prognostiziert worden war, weil eben die Menschen sich so vernünftig verhalten. Und das werden sie auch weiter tun. Deshalb braucht man nicht jetzt zu sagen: Alle über 65-Jährigen oder alle behinderten Menschen oder wer auch immer kriegen jetzt andere Ausgangsbeschränkungen als andere.
Deutschlandfunk Kultur: Sie würden sich dadurch diskriminiert fühlen?
Arnade: Ja, auf alle Fälle. Und das widerspricht unserer Verfassung Art. 3: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

Kriterien für die Triage

Deutschlandfunk Kultur: Seit Beginn dieser Coronapandemie geht ja die Angst um, dass es so viele schwer Erkrankte geben wird, dass sie nicht alle intensivmedizinisch behandelt werden können. Wir kennen die Berichte aus Nachbarländern. Das heißt, dann muss ausgewählt werden: "Du bekommst ein Beatmungsgerät. Und du bekommst keins." Das nennt man Triage in Anlehnung an den französischen Sanitätsdienst zu Kriegszeiten, von "trier", auswählen. – Das ist eine grausige Vorstellung.
Arnade: Ja, es ist auf alle Fälle eine grausige Vorstellung. In einem Gesundheitssystem, was gut ausgebaut ist und viele Kapazitäten hat, hoffen wir ja, dass es nicht dazu kommen muss. Wir haben das jetzt gesehen in Italien, in Spanien, dass es dazu kam. Das ist ganz fürchterlich und das ist auch für die einzelnen beteiligten Menschen ganz fürchterlich. In Deutschland ist es zum Glück noch nicht so. Es besteht auch die Hoffnung, dass es nicht so weit kommen wird. Im Moment wird ja mit viel Nachdruck daran gearbeitet, die Kapazitäten auszubauen, damit es nicht so weit kommt.
Aber es ist auf alle Fälle klug, sich vorher Gedanken zu machen: Wie geht man mit so einer Situation um, wenn sie denn kommt? Leider schweigt der Bundestag da bislang, obwohl es doch Aufgabe des Volkssouveräns wäre, sich dazu zu äußern.
Es gibt einige medizinische Gesellschaften, die einen Vorschlag für Empfehlungen gemacht haben. Den lehnen wir, also Menschen mit Beeinträchtigung, ganz vehement ab, weil dort doch implizit nach "lebenswert", "lebensunwert" unterschieden wird.
Deutschlandfunk Kultur: Genau, wie Sie sagen: Es gibt keine gesetzliche Regelung. Deswegen haben sich Vertreterinnen und Vertreter mehrerer medizinischer Fachgesellschaften auf bestimmte Empfehlungen verständigt. Da heißt es: Die Verteilung der begrenzten Ressourcen – immer für den Fall, dass nicht genügend Beatmungsgeräte, Intensivbetten usw. da sind –, müsse anhand von Kriterien entschieden werden, die transparent, medizinisch und ethisch gut begründet sind.
Arnade: So weit d’accord. Das ist alles richtig.

Die Problematik der "Erfolgsaussicht"

Deutschlandfunk Kultur: Und dann heißt es: "Die Priorisierung von Patienten sollte sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren." – Kann man auch mitgehen, dass man sagt: "Ich habe hier nur ein Bett und zwei Patienten. Bei dem einen ist es ziemlich sicher, da wird die Behandlung nicht zum Erfolg führen. Dann würde ich doch dem anderen Patienten den Vorzug geben."
Arnade: In Absprache mit den Beteiligten – ja.
Deutschlandfunk Kultur: Da gehen Sie auch noch mit?
Arnade: Ja. Wobei nicht so… Ich sage ja, in Absprache mit den Beteiligten. Denn die Erfolgsaussichten zu beurteilen, ist ja auch wieder eine sehr subjektive Sache. Wer bezeichnet was als Erfolg?
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, dass die Behandlung anschlägt.
Arnade: Ja. Geht es ums Überleben? Wer kann das wirklich beurteilen? Haben wir da nicht möglicherweise auch die Situation: zwei Ärzte, zwei Meinungen?

"An der Stelle widerspreche ich ganz vehement"

Deutschlandfunk Kultur: Das mag vorkommen, wie immer in der Medizin. Aber es ist ja klar, dass wir nicht von einer idealen Welt sprechen, sondern von einer schwierigen Notsituation, wo entschieden werden muss.
Ich kann ja mal weiter zitieren aus diesem Papier dieser medizinischen Fachgesellschaften. Die nennen nämlich drei grobe Kriterien für eine schlechte Erfolgsaussicht. Also, bei diesem Patienten, bei dieser Patientin ist die Aussicht, dass die Behandlung zum Erfolg führt, zur Heilung der Lungenentzündung gering. Das sind einmal "aktuelle Erkrankungen", also zum Beispiel akutes Organversagen liegt vor. Die sogenannte "Komorbidität", also zum Beispiel chronisches Organversagen, fortgeschrittene Herzinsuffizienz usw. Und als Drittes dann der "allgemeine Gesundheitsstatus, Gebrechlichkeit".
Arnade: Ja. An der Stelle widerspreche ich ganz vehement. Sie führen da nämlich eine sogenannte Gebrechlichkeitsskala ein – Clinical frailty scale. Diese Gebrechlichkeitsskala beruht auf einem vollkommen veralteten Bild von Beeinträchtigung und Behinderung. Die hat die Stufen von eins bis neun. Eins ist total fit. Neun ist "im Sterben liegend".
Ich selber habe mal geguckt: Wo liege ich denn auf dieser Skala? Ich bin bei Nummer 7, also, auf Assistenz angewiesen im Alltag, alleine kann ich nicht leben. Und es ist nicht zu befürchten, dass ich innerhalb der nächsten sechs Monate sterben werde. Aber wenn ich Gebrechlichkeitsskala 7 habe, habe ich verdammt schlechte Chancen, noch behandelt zu werden, wenn die Ressourcen knapp werden.
Deutschlandfunk Kultur: Ich kenne einen geistig behinderten Jugendlichen, der auch gewaschen werden muss, weil er einfach den Sinn dieser Aktion nicht versteht. Ich muss sagen, ich wiederum verstehe dann den Zusammenhang mit den Überlebenschancen bei einer Lungenerkrankung nicht.
Arnade: Eben! Also, die Überlebenschancen dieses jungen Mannes, der sich nicht selber waschen kann, sind ja genauso groß oder klein, wie die eines anderen, der sich selber waschen kann. Meine Überlebenschancen sind auch so groß oder klein, wie die einer etwa gleichaltrigen Person, die laufen kann. Also, warum diese Gebrechlichkeitsskala da mit herangezogen wird, verstehe ich auch überhaupt nicht.

Im Zweifel würde nicht behandelt werden

Deutschlandfunk Kultur: Der Jurist Oliver Tolmein hat darauf hingewiesen, dass nach diesen Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften – ich zitiere – "Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen im Zweifelsfall in die Gruppe der nicht zu behandelnden Patienten eingestuft werden sollen".
Mich wundert oder vielleicht wundert es mich nicht, mir ist zumindest aufgefallen, dass es keinen öffentlichen Aufschrei gegeben hat.
Arnade: Richtig. Es hat keinen öffentlichen Aufschrei gegeben. In der Gruppe der behinderten Menschen hat es schon heftige Reaktionen gegeben. Wobei diese Empfehlungen auch nicht so ganz einfach zu verstehen sind. Sie haben ja dieses Papier zitiert, es kommt zunächst relativ harmlos daher und gut verständlich. Ja, da kann man mitgehen und da kann man mitgehen, und da haben sie auch Recht. Und die Autorinnen und Autoren betonen ja auch immer, wie schwierig das Ganze ist, niemand will in die Lage kommen und so…
Und dann kommen solche Hämmer. Aber das muss man vielleicht auch zwei-, dreimal lesen, ehe man das überhaupt erkennt. Die Reaktionen darauf haben eine Weile auf sich warten lassen, aber sie sind schon sehr deutlich. Doch in dieser Coronakrise gibt es alle möglichen Schwierigkeiten, mit denen die Menschen sich beschäftigen. Vielleicht bleibt deshalb auch der Aufschrei aus.

Die Politik stiehlt sich aus der Verantwortung

Deutschlandfunk Kultur: Zwei Tage nach diesen Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften hat sich der Deutsche Ethikrat an die Öffentlichkeit gewandt. Der hat sie auch kommentiert, hat in einem gewichtigen Punkt widersprochen. Nämlich: Die Fachgesellschaften empfehlen, auch Menschen, die schon beatmet werden, immer wieder zu überprüfen, ob das eigentlich noch aussichtsreich ist. Und wenn ein anderer Patient kommt, bei dem die Behandlung aussichtsreicher wäre, dann einfach das Beatmungsgerät für diesen neuen Patienten frei zu machen. – Das hält der Ethikrat für "objektiv nicht rechtens".
Und zu der Triage, also der Auswahl von Patienten, zitiere ich Ihnen mal einen Satz, Frau Arnade, der Sie vielleicht beruhigt: "Sichergestellt werden muss, dass unfaire Einflüsse bei der Entscheidung ausgeschlossen werden, etwa solche im Hinblick auf sozialen Status, Herkunft, Alter, Behinderung usw."
Arnade: Ja. Das ist ein schöner Satz. Trotzdem kommt der Ethikrat zu dem Schluss: Die Politik, die Regierung darf sich da nicht einmischen aus verfassungsrechtlichen Gründen. Deshalb ist das schon okay, dass die ärztlichen Fachgesellschaften das machen. – Und es steht ja auch in dem Papier, wenn Ärztinnen und Ärzte im Zweifelsfall Entscheidungen treffen und es hinterher zu einem Gerichtsverfahren kommt, dann werden sie schon auf verständnisvolle Richterinnen und Richter treffen.
Das lese ich als einen Freibrief für alle möglichen Entscheidungen. Und ich finde, die Politik kann sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen. Das geht doch nicht! Ansonsten wird über Abtreibung, über Sterbehilfe im Parlament gerungen. Da wird der Fraktionszwang aufgehoben, das sind die Sternstunden des Parlaments. Das ist ja auch die Aufgabe unserer Volksvertreter, unsere Würde, unser Leben zu schützen. Das ist die oberste Aufgabe.
Deshalb müssten die jetzt auch aktiv werden und sich zumindest überlegen: Wie geht man mit so etwas um? Natürlich müssen sie auch die medizinischen Fachgesellschaften als Experten dazu hören. Sie müssen aber auch andere Expertinnen, Experten der Zivilgesellschaft dazu hören, sich ein Bild machen und dann darum ringen: Welche Kriterien den Entscheidungsträgern an die Hand geben für den Fall, den wir alle nicht haben wollen?

Ein Leben nicht gegen ein anderes aufwerten

Deutschlandfunk Kultur: Der Deutsche Ethikrat beton ja: "Jeder Mensch ist gleich viel wert." An diesen Grundsatz sei eben natürlich der Gesetzgeber gebunden. Deswegen – ich habe es so verstanden – seien dem Gesetzgeber die Hände gebunden, ein Gesetz zu erlassen, in dem der Wert eines Menschenlebens gegen ein anderes abgewogen wird.
Das hat ja auch das Bundesverfassungsgericht in dem Luftsicherheitsgesetz-Urteil entschieden, dass das in Deutschland nicht passieren darf.
Arnade: Das ist richtig. Es gibt aber trotzdem Vorschläge und Möglichkeiten, auch von Juristinnen und Juristen, wie man damit umgehen könnte. Der Gesetzgeber darf laut Verfassung nicht ein Leben gegen das andere aufwerten, wie Sie richtig gesagt haben und wie es auch in dem Papier steht. Trotzdem kann er nicht einfach sagen: Na, dann sagen wir eben gar nichts dazu und überlassen das Problem irgendwie dem Spiel der freien Kräfte. Sondern es müssen ja ethische, verfassungsrechtlich abgesicherte Prinzipien aufgestellt werden. Und es gibt verschiedene juristisch fundierte Papiere dazu, die zumindest drei Möglichkeiten aufzeigen, was man machen könnte.
Das ist zum einen das Prioritätsprinzip. Also, wer zuerst da ist, der bekommt die Beatmung oder das Intensivbett. Und der Nächste, der kommt, hat Pech gehabt.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist aber auch ungerecht, nicht wahr? Nur, weil jemand zum Beispiel näher am Krankenhaus wohnt als die andere, wird sein Leben gerettet und das der Frau zwei Straßen weiter nicht.
Arnade: Alles muss diskutiert werden und es ist schwierig, auf alle Fälle. Ich weiß natürlich auch keine Patentlösung. Ich lese von den Vorschlägen und diskutiere sie mit anderen. In den verschiedenen Papieren habe ich diese drei Möglichkeiten gefunden, die diskutabel wären und die wohl auch verfassungsrechtlich einigermaßen auf sicherem Boden stünden.
Das nächste wäre das Dringlichkeitsprinzip. Wer es am dringendsten braucht, bekommt die Behandlung. Und das letzte wäre das Zufallsprinzip, also quasi entscheidet das Los. – Auch grausam, alles grausam, aber es wäre eben verfassungsrechtlich angeblich möglich.

Regelungen müssen jetzt von allen erarbeitet werden

Deutschlandfunk Kultur: Wofür würden Sie sich entscheiden, wären Sie Ärztin?
Arnade: Ich will mich in so einer Situation nicht entscheiden müssen. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Wir haben gewählte Volksvertreter. Wir haben Ethik-Kommissionen. Wir haben ganz viele Fachleute. Die sollen sich zusammensetzen. Die sollen darüber beraten. Wir als behinderte Menschen können auch unseren Beitrag dazu leisten und unsere Meinung äußern. Aber ich glaube, es gibt niemanden, der in dieser Situation sagen könnte, "ich habe die goldene Lösung".
Deutschlandfunk Kultur: Ja, ich glaube, das ist auch das Problem sowohl des Ethikrats als auch der medizinischen Fachgesellschaften, die sich ja notgedrungen an die Ausarbeitung von Empfehlungen gemacht haben, weil sich ja, wie Sie es nennen, der Gesetzgeber bisher davor gedrückt hat.
Die Fachgesellschaften haben diese Empfehlung Ende März, wie gesagt, vorgestellt, und ausdrücklich eine Kommentierung erwünscht. Das fand ich sehr ungewöhnlich. Und Sie haben kommentiert. Wie war die Reaktion?
Arnade: Wir haben kommentiert und das auch an die entsprechenden Autorinnen und Autoren geschickt. Von denen haben wir keine Reaktion bekommen und auch nicht vom Deutschen Ethikrat, dem wir es auch geschickt haben. Wir haben ein Unterstützungsschreiben von einer Heilpädagogischen Gesellschaft bekommen. Und der Landschaftsverband Rheinland hat dieser Tage auch eine Presseerklärung herausgebracht und sich auch auf eine unserer Presseerklärungen bezogen und sie unterstützt.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht reagieren die Fachgesellschaften ja noch. Es wäre zu wünschen.
Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut hat am Dienstag gesagt, nach jetzigem Stand gäbe es in Deutschland genügend Intensivbetten. Beruhigt Sie das?
Arnade: Ein wenig schon. Also, ich hoffe ja nach wie vor, dass es in Deutschland nicht zu dieser Situation kommen wird. Das heißt aber nicht, dass wir nicht entsprechende Empfehlungen brauchen. Der Bundestag muss sich damit beschäftigen. Es gab bereits im Januar 2013 eine Bundestagsdrucksache, wo ein ganz ähnliches Szenario, wie es jetzt tatsächlich passiert ist, skizziert wurde. Auch darin wurde gesagt, es kann zu solchen Situationen wie der Notwendigkeit einer Triage kommen. Und der Bundestag ist aufgefordert, sich schon jetzt, ehe es so weit ist, Gedanken dazu zu machen. Das war im Januar 2013.
Seitdem ist bekanntermaßen diesbezüglich nichts passiert. Auch wenn es in der jetzigen Krise nicht dazu kommt, dass die intensivmedizinische Versorgung knapp wird, wäre es gut, wenn die gesellschaftlichen Gruppen, die Zivilgesellschaft und der Bundestag, die Bundesregierung, sich damit beschäftigen würden: Wie gehen wir damit um, wenn es eines Tages zu einer Knappheit kommen sollte?
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