Aktivismus im Netz

Vom Hashtag zur Bürgerbewegung

Demonstranten in Berlin halten am 10. Juli 2016 ein Transparent mit dem Twitter-Hashtag "#Black Lives Matter".
Demonstranten in Berlin halten am 10. Juli 2016 ein Transparent mit dem Twitter-Hashtag "#Black Lives Matter". © dpa / picture alliance / Wolfram Kastl
Von Heiko Behr · 28.09.2016
Ist Hashtag-Aktivismus nur ein narzisstisches Unterfangen? Mainstream-Medien charakterisieren Social Media gern als wirren Bienenstock − ein ewiges Summen, sinnlos, ziellos, irgendwann nervig. Doch #BlackLivesMatter ist ein weltweit beachtetes Gegenbeispiel.
Am 26. Februar 2012 ruft George Zimmerman, ein 28-jähriger Versicherungsvertreter aus Sanford, Florida, die Polizei. Er engagiert sich in einer sogenannten Neighborhood Watch, organisierte Zivilisten, die Kriminalität in ihrer eigenen Nachbarschaft verhindern wollen. Jetzt will er verdächtige Machenschaften entdeckt haben.
"Wir hatten einige Einbrüche bei uns in der Nachbarschaft. Und dieser Typ sieht sehr verdächtig aus. Als ob er auf Drogen ist. Er sieht schwarz aus…"
Er versichert am Telefon, dass er auf das Eintreffen der Polizei wartet. Als diese zwei Minuten später erscheint, liegt dieser angeblich "sehr verdächtige Typ" sterbend auf der Straße. Ein 17-jähriger afroamerikanischer Schüler. Sein Name: Trayvon Martin.
Zimmerman wird festgenommen. Im Sommer des darauf folgenden Jahres startet der Prozess, George Zimmerman wird des Mordes mit bedingtem Vorsatz angeklagt. Es stellt sich heraus, dass Trayvon Martin kurz vor dem Handgemenge mit Zimmerman ein Getränk in einem Kiosk gekauft hat. Es stellt sich heraus, dass er auf dem Weg zur Freundin seines Vaters, die in der Nachbarschaft wohnt. Es stellt sich heraus, dass er kurz telefoniert hat und sich dabei über Zimmerman geäußert hat, ein bedrohlich wirkender weißer Mann verfolge ihn. Kurz darauf ist der unbewaffnete Junge tot.
Am 13. Juli 2013 wird George Zimmerman von einem Geschworenengericht freigesprochen.
In diesen Tagen, im Sommer 2013, tritt eine neue Bürgerrechtsbewegung auf den Plan. Gesammelt unter einem Twitter-Hashtag, das der Bewegung auch ihren Namen verleiht: Black Lives Matter. Es sind Gleichgesinnte, bürgerrechtsbewegte Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen, die sich national organisieren, in ihrer Lebenswelt, der Online-Welt. Und Twitter, der Kurznachrichtendienst, ist der virtuelle Raum, in dem sie sich versammeln, austauschen, trauern, kämpfen. Eine von ihnen ist Meredith Clark.
Meredith Clark ist Assistenz-Professorin an der University of North Texas. Sie beschäftigt sich vor allem im Zusammenspiel von Medien und Macht mit dem Konstrukt "Rasse". Sie ist Wissenschaftlerin, aber sie ist auch Aktivistin. Aufgrund eigener Erfahrungen:
"Ich war meistens die einzige schwarze Schülerin, ich war in einer Privatschule. Meine Lehrer haben meinen Eltern gesagt, ich sei nicht in der Lage, Französisch zu lernen. Ich war eine Außenseiterin. Meinen Eltern wurde gesagt, ich könne nicht bei den Pfadfindern mitmachen, da sei kein Platz für mich. Obwohl sie andere aufgenommen haben – so lange sie nicht Schwarz waren."
Eine gebildete schwarze Frau, die schon in ihrer Kindheit mit mal mehr mal weniger offenem Rassismus konfrontiert wird. Und die im Sommer 2013 erkennt: Jetzt ist der Zeitpunkt, die ganze Welt muss wissen, wie in den USA auch über 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. und Malcolm X Afroamerikaner behandelt werden. Wie ihr Leben aussieht. Die kleinen Demütigungen, die großen Widerstände. Und vor allem: wie die Polizei mit ihnen umgeht.

Dokument des Schreckens

Weitere Tode afroamerikanischer Menschen erschüttern die sozialen Medien, die Welt. Im Sommer 2014 wird der 18-jährige Michael Brown in Ferguson, Missouri von einem Polizisten erschossen. Aufstände, Tumulte erschüttern die Stadt. Der 43-jährige Eric Garner stirbt bei seiner Festnahme in New York.
Ein zufälliger Zeuge filmt die Festnahme. Es ist ein Dokument des Schreckens. Elfmal hört man Eric Garner, wie er mit schwächer werdender Stimme unter den Polizisten ruft "Ich kriege keine Luft". Eine Stunde später wird er im Krankenhaus für tot erklärt. Die Polizisten werden nicht zur Verantwortung gezogen.
Es sind Ereignisse wie diese, die die Gründerinnen von Black Lives Matter bestätigen, ihre Arbeit fortzusetzen. Und zu verstärken. Bis heute erweitern sie die Bewegung auf insgesamt 30 sogenannte Chapters, also Standorte, Anlaufpunkte in amerikanischen Städten, bald auch weltweit. Die Hashtag-Bewegung wird in die Offline-Welt getragen. Und funktioniert erst in dieser Verbindung.
Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen, seitdem Black Lives Matter als politische Kraft auf den Plan getreten ist. Amerikanische Forscher haben begonnen, diese neue Form des Aktivismus, den sogenannten Hashtag-Aktivismus, wissenschaftlich zu untersuchen. Sie haben etwa 41 Millionen Tweets durchkämmt. Um herauszufinden, wie diese neue Protestform funktioniert.

Twittern über Polizeigewalt

Zunächst haben sie sechs verschiedene Gruppen geortet, die über Polizeigewalt twittern. Die Aktivisten selbst. Eher links orientierte Hacker-Kollektive. Schwarzer Entertainer. Konservative, die sich in extremer Opposition befinden. Die großen Medien, die das Narrativ aufgreifen. Und natürlich: Junge schwarze Menschen. Gerade für sie ist es nicht immer leicht, sich in einer weißen Mehrheitsgesellschaft wie den USA Gehör zu verschaffen. Meredith Clarks Einschätzung:
"Ich glaube, Twitter eröffnet die Möglichkeit sozialer Konversation, die man nicht überall antrifft. Einige Leute benutzen auf Twitter eine andere Identität. Und so können sie sich so ausdrücken, wie sie es im Café, im Klassenzimmer oder auf der Arbeit vielleicht nicht tun würden."
Daran hat sich seit den 60er-Jahren, seit Martin Luther King seinen Traum ausrief, wenig verändert. Unbequeme Meinungen der Minoritäten werden schnell vom Mainstream eingeengt auf genau das: Minderheitenmeinungen. Dementsprechend formierte sich auf Twitter schnell der Hashtag "ALL lives matter". Gemäß des scheinbar einleuchtenden Argumentes, dass jeder gleich sei und deshalb jedes Leben zähle; so wird natürlich letztlich der Sinn von Hashtags ad absurdum geführt. Weil sich unter diesem Allgemeinplatz natürlich gar nicht diskutieren lässt. Diese Online-Strategie, unliebsame Gegenmeinungsäußerungen zu diskreditieren, ist mittlerweile gang und gäbe.
Aber etwas anderes hat sich in dieser Form des Aktivismus im Vergleich zu den 1960er-Jahren verändert, die Sichtbarkeit der Teilnehmenden:
"Strukturell gibt es einiges zu verbessern an der Bürgerrechtsbewegung aus den 60ern. Wir sind inklusiver, wir glauben an Sichtbarkeit, Frauen haben explizit Führungsrollen. Das gab es in den 60er-Jahren nicht unbedingt. Wir lassen uns inspirieren wie beim Marschieren, den Sit-Ins, beim Konsumboykott – aber die Ideen, die Strukturen sind anders. Bei uns heißt es: Niemand ist frei, wenn nicht jeder frei ist. Und wir werden eben nicht von einer Person angeführt – sondern von vielen."

Der Einzelne zählt wenig

Nun ist es an der Zeit, die drei ersten Organisatorinnen von Black Lives Matter zu nennen. Ihre Namen sind Alicia Garza, Patriss Cullors und Opal Tometi. Namen, die abseits von Insiderkreisen, den wenigsten bekannt sein dürften. Das ist gewollt, das ist geplant. Der Einzelne zählt weniger. Man muss allerdings auch feststellen: als dann plötzlich die Massenmedien, die etablierten Zeitungen, Fernsehstationen, die Radiostationen das Phänomen Black Lives Matter aufgriffen, verengte sich der Blickwinkel dann doch wieder auf einige wenige – Männer. DeRay Mckesson ist bis heute sicher der bekannteste unter ihnen. Innerhalb der letzten Jahre ist er zur ersten Ansprechperson der Medien geworden. Gleichzeitig hat er sich selbst auch stark inszeniert. Und etwa ein sehr starkes Bild getwittert, das ihn zeigt, auf Knien, bei der Festnahme während einer Demonstration. Dieses Bild ging um die Welt. Und in der Zeit allgegenwärtiger Handykameras gibt es sogar verwackelte, bewegte Bilder von diesem Moment.
So erschaffen die traditionellen Medien, mithilfe der Netz-Protagonisten, dann doch wieder Frontfiguren, die viele andere in den Hintergrund drängen. Auch dies ist das Ergebnis der Studien, die Meredith Clark mit ihren Kollegen angestellt hat.
Dennoch muss man feststellen: Mit dem Aufkommen des Hashtag-Aktivismus setzt sich in der Gesellschaft eine neue Art des Denkens durch. Das sich von Personalisierung entfernt. Felix Stalder ist Professor für digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste und freier Forscher in Wien. Er untersucht den Zusammenhang zwischen technologischen, kulturellen und politischen Dynamiken in seinem Buch "Die Kultur der Digitalität". Er sieht die Nutzung des Internets als eine Wasserscheide, das neues Denken hervorgebracht hat:
"Das ist ein Denken, das primär auf Prozesse orientiert ist und nicht auf Objekte. Es ist Handeln, das auf Vielstimmigkeit und nicht auf Eindeutigkeit organisiert ist. Und das muss nicht notwendigerweise auf digitale Medien beschränkt sein, aber digitale Medien machen es sehr viel einfacher, so zu denken und zu handeln. Und deshalb verbreitet sich das Handeln über die digitalen Medien in die Gesellschaft und löst andere Formen des Handelns und des Ordnens ab."
Dieses Handeln, dieses Ordnen bezieht sich vor allem und oft auch auf Begrifflichkeiten. Es geht um Genauigkeit und es geht darum, eigene Präzisierungen im Kampf um die Deutungshoheit zu verankern. Lange war das Sache der Medien, doch die sozialen Medien fördern neue Begrifflichkeiten und verbreiten sie schnell.
In den Nachrichten wurde der Charleston Amoklauf als "Charleston Schießerei" bezeichnet. Dann änderten ein paar Leute das Hashtag zu "Charleston Massaker”. Denn genau das war es: jemand kommt in eine Kirche und massakriert die Betenden.

Dominante Muster verdrängen

Dieses Überschreiben von medialen Sichtweisen, die traditionell Mainstream-Perspektiven sind, hat auch Professor Stalder aus Wien als prägend ausgemacht. Er sieht darin eine große Stärke sozialer Netzwerke, des Internets insgesamt:
"Darin dass es gewisse Dinge, die vorher marginal waren, plötzlich dominant macht und andere, früher dominante Muster verdrängt. Aber das ist nur möglich geworden, weil diese Dinge schon da waren, weil diese Dinge durchs Internet massenrelevant geworden sind."
Gern wird das Internet als großer Disruptor wahrgenommen, als Quantensprung. Der Kommunikation völlig neu gestaltet. Stalder argumentiert allerdings, dass die Basis für diesen Umbruch bereits in den 60er-Jahren gelegt wurde. Durch die Bürgerrechtsbewegung, die Studentenbewegung, die Emanzipationsbewegung. Und durch die Homosexuellenbewegung.
Diese These Stalders lässt sich beim Phänomen Black Lives Matter sehr genau nachvollziehen. Die afroamerikanische Perspektive in den Mainstream einzuspeisen, die vorherrschende weiße Perspektive zu ergänzen – diese Saat wurde in der Bürgerrechtsbewegung bereits gesät. Die Unterdrückung, das Leiden der schwarzen Bevölkerung wurde sichtbar gemacht. Aber erst mithilfe sozialer Medien wie Twitter sind die einzelnen Akteure mit ihren Geschichten sichtbar geworden. Und erst so kann dieser neue Diskurs auch bewertet werden. Das ist ein qualitativer Sprung von einer reinen Kommunikationsform hin zu einem Kulturmedium.
"Über das Internet ist es jetzt sehr viel leichter geworden, auch für andere Gruppen, ihre eigene Lebenswelt zu konstruieren und diese als gleichwertig mit anderen in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen."

Verpuffte Kampagnen

Black Lives Matter oder die Occupy Wall Street-Bewegung - alles Bewegungen, die über den Austausch auf Twitter schnell wuchsen und weltweit bekannt wurden. Doch wie lässt sich der Online-Erfolg messen? Was ist Sichtbarkeit im Netz letztlich wert – in der Offline-Welt?
Mainstream-Medien charakterisieren Social Media gerne als wirren Bienenstock. Ein ewiges Summen. Sinnlos, ziellos, irgendwann nervig. Die klassischen Vorwürfe: Hashtag-Aktivismus ist ein eitles, narzisstisches Unterfangen, bestenfalls: konsequenzlose Online-Unterhaltung.
Und wenn man sich die Geschichte vergangener Hashtag-Kampagnen ansieht, gibt es einige, die nahezu verpufft sind. Etwa die Aktionen gegen den ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony. Oder die unter dem Hashtag "Bringbackourgirls" organisierten Proteste gegen die von der Terrorbande Boko Haram entführten jungen Frauen. Auch hier: wenig zählbare Erfolge. Und das ist ja letztlich das Ziel: gesellschaftliche Veränderung. Der Quantensprung von der Erzeugung von Aufmerksamkeit hin zur Entwicklung von Lösungsansätzen ist das Maß, an dem sich Hashtag-Aktivismus messen lassen muss.
Beim globalen Phänomen Black Lives Matter ist dies in Ansätzen gelungen.
Das beginnt bei der Organisation. DeRay Mckesson erzählte in Interviews wiederholt, dass er unvorbereitet zu Brennpunkten wie Ferguson, Charleston fährt und durch Twitter sofort Ansprechpartner vor Ort hat, Schlafunterkünfte organisieren kann. Und dieser Graswurzel-Ansatz zieht sich dann auch durch die Organisationsform: es gibt keine wichtigen Frontfiguren innerhalb der Bewegung, jeder ist eingeladen. Die Zeiten von Martin Luther King Jr. sind vorbei – auch wenn Männer wie Mckesson durch die Medien als solche stilisiert werden. Im Kern ist die neue Organisationsform egalitär, dezentralisiert.
Dann kam der große Moment, als die Online-Bewegung endgültig den politischen Mainstream erreichte. Präsident Barack Obama, der sich explizit nach den Ereignissen von Ferguson an die Nation wandte:
"Jeder muss wissen: wir haben nach Ferguson eine Taskforce ins Leben gerufen, die die Aufgabe hat, ganz konkrete Empfehlungen zu geben, wie wir die Beziehung zwischen der Polizei und den Minderheiten, besonders den afroamerikanischen, stärken können. Dass wir ganz konkrete Schritte unternehmen, um die Ausbildung und die Arbeit der staatlichen und lokalen Regierungen zu verbessern, wenn es um die Polizeiarbeit dort geht."
Der Druck der Online-Bewegung, natürlich verbunden mit den tatsächlichen Aufständen, zwang Obama geradezu dazu, das Thema zu adressieren und Änderungen einzuleiten. Seitdem tragen Polizisten in Los Angeles automatisiert filmende Kameras an ihren Uniformen. Um für mehr Transparenz zu sorgen.
Nun ist dieses Beispiel ein internationales Phänomen. Der Hashtag Black Lives Matter wurde weltweit verwendet. Wie aber ist es mit kleineren, nationalen Kampagnen. Können die eine ebenso große Durchschlagskraft entwickeln?

Gegen sexistische Produkte

Pinkstinks-Werbeclip: "Sexismus ist, wenn ein Geschlecht benachteiligt wird. Zum Beispiel wenn ein rosa Spielzeugcomputer in der Werbung mit zehn Funktionen angepriesen wird, und der blaue Computer 50 Funktionen hat..."
Das ist ein Online-Clip der deutschen Lobbygruppe Pinkstinks, die ursprünglich in England gegründet wurde. Die deutsche Dependance entwickelt etwa Kriterien für geschlechtsdiskriminierende Werbung, macht generell auf sexistische Produkte aufmerksam und hat auch gegen das Frauenbild von "Germany's Next Topmodel" agitiert. Und sie organisieren Demonstrationen jetzt Hand in Hand mit dem Bundesfamilienministerium.
Ihr Chefredakteur und sogenannter Campaigner, also Kampagnenorganisator, ist Nils Pickert, ein freier Autor und Journalist. Vor einigen Jahren wurde er zu einer Art Netzberühmtheit. Weil sein Sohn gern die Röcke seiner Schwester trug, dafür aber ausgelacht wurde, begann sein Vater, ebenfalls Röcke zu tragen. Und damit im damaligen Wohnort Villingen auch auf die Straße zu gehen. Die Geschichte wurde im Netz aufgegriffen, sogar internationale Medien berichteten – und geriet außer Kontrolle.
"Die Zuschriften, die Kommentare, die positiv ausgefallen sind, haben mich sehr berührt. Aber auch die Anfeindungen, die Drohungen, die Aufrufe zu Gewalt gegen mich haben mich teilweise sehr verunsichert und haben dazu geführt, dass ich entschlossen habe, privat in den sozialen Medien nicht stattzufinden. Nachdem dann in Villingen, dem Ort in Süddeutschland, wo ich zum damaligen Zeitpunkt gelebt habe inmitten der Rockgeschichte, plötzlich Journalisten dann mit mir sprechen wollten, das war mir deutlich zu dicht. Dementsprechend versuche ich seitdem ein bisschen Distanz zwischen mich und die Öffentlichkeit zu bringen."

Die dunkle Seite ist der Shitstorm

Der Pinkstinks-Verantwortliche für die Sozialen Medien, der privat aus verständlichen Gründen nicht mehr bei den Sozialen Medien erscheint. Eine bezeichnende Randnotiz. Denn die dunkle Seite organisierter oder auch zufällig entstehender Hashtag-Kampagnen – ist der Shitstorm.
Ein Begriff, der seit Jahren alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens erreicht hat. Große Online-Aufregung. Dieser Shitstorm kann einfach über einen kommen, überraschend, aus dem Nichts. Oder aber er kann gezielt eingesetzt werden. Vor allem Akteure aus der politisch rechten Ecke instrumentalisieren das Netz gezielt durch provokante Äußerungen. Der Autor Akif Pirinçci eskaliert mit Vorsatz. Seine Ausfälle gegen die Grünen, gegen die Gender-Studies machten schnell die Runde. Sein Ziel, Aufmerksamkeit für ein Buch mit kruden Thesen zu erzeugen, erreichte er schnell. Ein anderes, aktuelles Beispiel: der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump. An den etablierten Medien vorbei nutzt er gezielt Twitter mit zugespitzten Äußerungen, um Aufregung zu erzeugen. Und die Medien greifen das begierig auf, werden zum Spielball seiner rhetorischen Manipulationen. Der Shitstorm als Form der politischen Kommunikation, er hat das Prinzip perfektioniert.
Doch zurück nach Deutschland. Das Prinzip Hashtag-Aktivismus erreichte eine breite Mainstreamöffentlichkeit im Rahmen der sogenannten "Aufschrei"-Kampagne. Angestoßen durch die Journalistin Anne Wizorek, die alltäglichen Sexismus in Deutschland so auf die Agenda setzte.
Die Kommunikationswissenschaftlerin Ricarda Drüeke forscht an der Universität Salzburg über Medien- und Genderstudies, Onlinekommunikation, Partizipation im und durch das Internet. Und: Protestbewegungen im Netz. Sie untersucht die strukturellen Erkenntnisse der "Aufschrei"-Kampagne.
Es zeigten sich in diesen Tweets Hierarchieerfahrungen. Also vor allem wurde sexualisierte Gewalt ausgeübt von Personen, die in der Hierarchie höher standen, sei es in der Universität, in der Schule, die somit höher standen und somit ein Abhängigkeitsverhältnis ausnutzten. Aber es zeigten sich auch viele alltägliche Begebenheiten wie an Bushaltestellen, in Stadien, auf öffentlichen Plätzen, wo Frauen sexualisierte Gewalt bzw. alltäglichen Sexismus erlebt haben.
Auch hier: ein Thema, das kaum diskutiert wurde in der Öffentlichkeit. Trotz seiner traurigen Zeitlosigkeit.
Das große Verdienst des Hashtags #Aufschrei ist dabei wieder: Es werden einerseits Vielstimmigkeiten verschiedener feministischer Positionen ausgedrückt, aber andererseits entsteht so auch ein Eindruck der Geschlossenheit, eine inhaltliche Solidarität. Ein großes, gemeinsames Ziel, das gemeinsam verfolgt wird, statt sich in Details zu verhaken. Das ist eine große Errungenschaft in Zeiten zunehmender Fragmentierung. Die "Aufschrei"-Kampagne wurde mit dem Grimme-Online-Preis ausgezeichnet. Wie aber kommt es, dass Bundespräsident Gauck in einem Interview dann von "Tugendfuror" sprach? Dass er eine "ernsthafte Debatte" anmahnte? Warum wird diese Form des Aktivismus in Deutschland seine Berechtigung abgesprochen, warum wird er sogar lächerlich gemacht?
Gerade in Deutschland gibt es ein starkes Echo aus der 68er-Generation, das bis heute nachwirkt. Die Vorstellung eines politisch-aktiven jungen Menschen ist geprägt von der Studentenbewegung. Massen auf den Straßen, Megafon, Plakate, Aktivismus als sichtbare Handlung. Bis in die 80er Jahre.

Rechte überschreiben die Parolen von '89

Montagsdemonstration Leipzig 1989: "Gorbi! Gorbi! Gorbi!"
Die Politik war wirkmächtig, mit charismatischen Frontfiguren von Willy Brandt bis Gorbatschow. Vieles hat sich seitdem verändert.
"Und wenn ihr beständig bleibt und ihr euch nicht beirren lasst, kann ich euch garantieren, diese Hoffnung bleibt nicht nur eine Hoffnung. Diese Hoffnung, diese Visionen werden Realität, liebe Patrioten. – Merkel muss weg! Merkel muss weg! Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"
Im Jahr 2016 wurde der Slogan von 1989 überschrieben. Plötzlich wird er auf rechtsorientierten Demos gebrüllt. Der Diskurs, der Sound hat sich verändert.
Die Parteien haben an Einfluss verloren. Das heißt aber nicht unbedingt, dass gerade junge Menschen keinerlei Interesse an politischen Entwicklungen haben. Die Positionen sind heute nur fragmentierter, weniger an Parteien gebunden. Die Haltungen flexibler.
Felix Stalder: "Ich glaube, wir sind in einer sehr paradoxen Situation. Zum einen merken wir, dass die traditionellen politischen Verfahren, Wahlen, Parteien, Anträge stellen etc. zunehmend schwierig funktionieren. Dass immer mehr in Hinterzimmern, im Lobbying entschieden wird. Und wir das Gefühl haben, dass die Parteien eigentlich einen relativ engen Konsens verkörpern. Und das öffnet den Weg für die Rechtspopulistischen Parteien, die sagen, die alten traditionellen Parteien sind alle eins geworden. Und das hat damit zu tun, dass zunehmend beispielsweise Merkel immer wieder davon gesprochen hat, dass die Politik alternativlos sei und dass es darum gehe, eine marktkonforme Demokratie zu finden. Und gleichzeitig die andere Erfahrung ist, dass wir in einer Situation leben über die sozialen Medien, indem wir unsere eigenen Erfahrungen hypercustomizen können. Wir können ganz viel beeinflussen, wie wir etwas sehen, was wir sehen, wo wir teilnehmen wollen, was uns interessiert, was uns nicht interessiert. Und das führt zu einem Widerspruch im Alltag, dass wir auf der Mikroebene ganz viel entscheiden können, auf der Makroebene aber immer weniger."
Man kann also sagen: Hashtag-Aktivismus ist im Grunde eine Weiterentwicklung der Außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren in Deutschland. Eine Reaktion auf das Gefühl der Hilflosigkeit des Einzelnen, aber auch eine Reaktion auf die lange Jahre regierende "Alternativlosigkeit", ein Begriff, der Angela Merkels Politikstil auf den Punkt brachte.
Hashtag-Aktivismus ist also in diesem Sinne eine zeitgemäße Form der politischen Kommunikation geworden. Die genauso strategisch angegangen wird. Pinkstinks-Campaigner Nils Pickert gibt einen Einblick in seinen Arbeitsprozess:
"Zum Beispiel wenn ein Münchner Hotel eine Werbeanzeige schaltet, eine Postkarte auf der steht: Ein Essen ohne Wein ist wie eine schöne Frau, der ein Auge fehlt. Wenn ich so ein Bild sehe, dann ist der Punkt, wo ich versuche, eine Online-Kampagne dagegen zu fahren. Das würde bedeuten, ich sehe dieses Produkt, ich sehe die Kampagne und dann überlege ich, wieviel Zeit mir zur Verfügung steht, ich versuche das im Team zu besprechen, was wir machen können. Und der erste Schritt ist, dass man schaut, mit wem man netzwerken kann und mit wem man netzwerken muss, um eine bestimmte Reichweite zu erzielen. Das bedeutet, es geht ganz klar um den Ton, das ist jetzt schon relativ stark abwertende, sexistische Bemerkung, das geht ja schon ganz stark in den Bereich, dass sie Behinderte abwertet. Dh im Vorfeld haben wir uns dann für die Kampagne mit diversen Behindertenverbänden kurzgeschlossen, um das erst in die Sozialen Medien zu stellen und dann in die Presse zu drücken."

Geschwindigkeit, Neuigkeit und Flexibilität

Dieses "in die Presse drücken" ist natürlich immer das Ziel. Egal aus welcher Richtung Online-Kampagnen gesteuert werden: es ist ein Kampf um Aufmerksamkeit. Denn natürlich ist klar: ohne die Demonstrationen in Ferguson, in New York, in Washington. Ohne die Talkshow-Auftritte, ohne die Porträts in den Medien bleiben Hashtag-Kampagnen begrenzt. Sie sind ein neues Glied in einer Kette. Nur ein Glied, aber ein wichtiges, neues Glied. Professor Felix Stalder benennt die drei Kennzeichen der Online-Kommunikation in Sozialen Medien:
"Diese drei Dinge, Geschwindigkeit, Neuigkeit und Flexibilität, sind eigentlich das Gegenteil von langfristigem Handeln. Und die Schwierigkeit besteht darin, diese Tendenz zum schnellen, neuen zu übersetzen in etwas, das langfristig funktionieren kann. Das ist oft langweilig, das ist unattraktiv, das entspricht nicht unserer Erwartung, dass dauernd etwas Neues passieren muss. Wenn man dreimal über dasselbe redet, ist es schon langweilig. Und diese Übersetzungsleistung vom Kurzfristigen ins Langfristige – da scheint mir das Problem zu sein und die große Herausforderung."
Und diese Herausforderung betrifft zunächst einmal die traditionellen Massenmedien. Sie haben bis jetzt eine für alle erreichbare oder zumindest sichtbare Öffentlichkeit geschaffen. Nun, mit der neuen Vielstimmigkeit im Netz, dem Bombardement aus Hashtag-Kampagnen, aus Meinungsmache, sehen sich diese traditionellen Medien einer großen Herausforderung gegenüber. Wie sollen sie all diesen Stimmen gerecht werden? Ist das überhaupt noch möglich? Ist der Online-Diskurs, der so schnell polarisiert, noch in geordneten Bahnen zu halten? Und wir, die Social Media User, was wollen wir?
Abseits der traditionellen Medien ist jeder Einzelne gefragt. Die Dynamiken innerhalb der Gesellschaft sind sichtbar und nachvollziehbar geworden. Niemand kann mehr behaupten, vom großen Narrativ afroamerikanischer Unterdrückung nichts mitzubekommen. Black Lives Matter ist es gelungen, Themen zu setzen ins Herz der Gesellschaft. Nun geht es darum, das Wissen und die damit verbundene Empathie des Einzelnen in Solidarität umzumünzen, die über ein Retweeten oder stummes Mitlesen hinausgeht. Es geht darum, Solidarität zu beweisen durch konkrete Handlungen. Den letzten Schritt, der in die Offline-Welt führt, den müssen wir allerdings selber tun.
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