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Eberhard Seidel im Gespräch mit Britta Bürger · 21.08.2012
Nach den Übergriffen auf Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 hätten viele Menschen erkannt, dass der Staat allein den Rechtsextremismus nicht wirksam bekämpfen kann, sagt der Journalist Eberhard Seidel. Der Pogrom sei auch die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft gewesen.
Britta Bürger: 20 Jahre nach dem ausländerfeindlichen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen interessiert uns heute, wie die Ausschreitungen des Jahres 1992 die bundesdeutsche Gesellschaft verändert haben. Die Schande von damals war die Geburtsstunde der deutschen Zivilgesellschaft – das meint der Publizist Eberhard Seidel, der mehrere Bücher über Jugendgewalt und Rechtsradikalismus veröffentlicht hat und selbst ein Antirassismus-Projekt mit aufgebaut hat: Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage. Guten Morgen, Herr Seidel!

Eberhard Seidel: Guten Morgen!

Bürger: Sie haben Rostock-Lichtenhagen in einem "taz"-Artikel als die Geburtsstunde der deutschen Zivilgesellschaft bezeichnet, woran machen Sie das fest, was hat sich infolge dieses Pogroms in der Bevölkerung geregt?

Seidel: Ja, Rostock-Lichtenhagen ist ja eine Chiffre für die Ausschreitungen, ausländerfeindlichen Ausschreitungen der früheren 90er-Jahre im kaum wieder geeinten Deutschland. Und es war vielleicht auch ein Höhepunkt, ein trauriger Höhepunkt.

Auf jeden Fall haben eine ganze Reihe von Menschen damals sehr wohl erkannt, dass der Staat versagt hat in dem Rückdrängen von neonazistischen, rechtsextremistischen Straftaten, dass sich die Zivilgesellschaft, die Bürger dieses Landes nicht alleine auf staatliches Handeln, auf die Polizeien, die natürlich dafür zuständig sind, Gewalttäter und Rechtsextremisten auch zu bekämpfen, aber nicht allein darauf verlassen können, sondern dass sehr wohl man sich kümmern muss, was ist die Stimmung in dem Ort, in dem ich wohne, in der Schule, an der ich unterrichte.

Und beispielsweise wurde damals Aktion Courage e.V. gegründet, ein Trägerverein, der unter anderem auch die Organisation, an der ich auch mitwirke und die Geschäftsführung innehabe, Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage damals auch gegründet hat. Es war das Bewusstsein beispielsweise, dass man auch die Jugendlichen, die damals ja auch sehr betroffen waren, also was da in Deutschland passiert. Dass man ihnen eine Möglichkeit bietet, aktiv gegen jede Form von Diskriminierung einzutreten. Und diese Gruppen, und es gibt ja eine ganze Reihe anderer regionaler Gruppen, die haben sich damals unter dem Eindruck von Rostock-Lichtenhagen und dann auch noch von Mölln und Solingen, den Brandanschlägen, derer ja auch in diesem Jahr gedacht wird, gebildet.

Bürger: Haben diese Initiativen vor allem dazu beigetragen, dass sich gleichgesinnte gegenseitig darin bestätigen, dass es wichtig ist, etwas zu tun, Widerstand zu leisten, oder haben sie tatsächlich auch gesamtgesellschaftlich etwas verändert?

Seidel: Also einmal ist es natürlich wichtig, dass sich Gleichgesinnte zusammenschließen und sich überlegen, wie sie handlungsfähig werden können. Das ist passiert. Gleichzeitig haben diese ganzen Initiativen auch Einfluss auf staatliches Handeln genommen. Wir erinnern uns, vor mittlerweile über zehn Jahren, elf Jahren genau, gab es den sogenannten Sommer den Aufstand der Anständigen, den damals Kanzler Schröder ausgerufen hat, nachdem es auch ein paar Übergriffe und Anschläge gegeben hatte. Das hat dazu geführt, dass erstmals 2001 unter rot-grün diese zivilgesellschaftlichen Organisationen vom Staat auch alimentiert wurden, also unterstützt wurden, auch Gelder bekamen, um diese Strukturen aufzubauen, weil damals dann, nach über zehn Jahren, nach der Wiedervereinigung auch klar war, dass vor allem auch in den fünf neuen Bundesländern auch zivilgesellschaftliche Strukturen aufgebaut werden müssen, Unterstützung brauchen, das nicht von alleine passiert. Damit Demokratie im Alltagsleben unter den Jugendlichen, aber auch unter Erwachsenen natürlich sich verbreiten kann.

Bürger: Bestehen diese Strukturen bis heute? Haben sie sich weiter ausgebaut oder sind viele dieser Initiativen dann auch wieder eingeschlafen?

Seidel: Das Ganze entwickelt sich so wellenartig. Es gibt dann immer wieder nach schrecklichen Ereignissen, beispielsweise nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde, die ja alle schon einige Jahre zurückliegen, dann plötzlich wieder ein Aufwachen in der Gesellschaft, ein Aufgerütteltsein. Und die Politik reagiert in dieser Situation in der Regel, dass sie dann wieder ein bisschen mehr Geld zur Verfügung stellt, aber dieses Geld in der Regel, wenn die Betroffenheit verebbt und auch wieder in den Hintergrund gerückt ist, dann in der Regel auch die Finanzierungen wieder eingedampft werden oder zumindest beschnitten werden.

Das ist ein sehr großes Manko. Dass also diese Arbeit dieser zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht kontinuierlich über die Jahre hinweg einigermaßen vernünftig unterstützt wird. Also, sie ist immer wieder prekär und bedroht, aber ich möchte nicht sagen, dass der Staat überhaupt nichts tut. Das macht er nicht, also er unterstützt auch Gruppen, aber diese Unterstützung könnte ein bisschen kontinuierlicher und berechenbarer sein.

Bürger: Wir haben gestern hier im Radiofeuilleton mit dem Historiker Ulrich Herbert über das Thema gesprochen, und er sagt unter anderem folgendes:

Ulrich Herbert: "Es hat sich, wie man es heute nennt, die Zivilgesellschaft erhoben, das war sowohl im Osten wie auch im Westen der Fall. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass diese ja doch im Grunde unglaublichen Ereignisse, man darf nicht vergessen, über hundert Tote hat es insgesamt gegeben im Kontext von antiausländischen Übergriffen, umgekommene Menschen, über hundert. Das ist schon Ende des Jahrzehnts, also um 2000 weitgehend vergessen gewesen, und wenn Sie heute danach fragen, werden Sie bei einem Großteil der Bevölkerung nur noch ganz wenige Erinnerungen daran haben. Das heißt, wir haben das verdrängt."

Bürger: Das hat der Historiker Ulrich Herbert gestern hier im Deutschlandradio Kultur gesagt. Heute sind wir darüber im Gespräch mit dem Publizisten Eberhard Seidel. Was sagen Sie zu dieser Diagnose, dass die Bevölkerung die Pogrome und den sich anschließenden Polizei- und Justizskandal doch schnell wieder verdrängt hat?

Seidel: Also ich bin ja dafür, sich Dinge anzuschauen und dann nachzufragen, ist das Glas halb voll oder halb leer. Ich würde sagen, in Deutschland ist das Glas halb voll. Das heißt also, in der Folge dieser Pogrome haben sich zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengeschlossen, und das ist aber allerdings notwendig. Demokratie in Deutschland ist noch nicht so gefestigt, wie viele das glauben. Das hat mit den Traditionen in diesem Land zu tun, die wir nicht einfach wegwischen können.

Demokratische Alltagskultur ist erst, also seit 20 Jahren im Osten der Republik präsent, und im Westen der Republik muss das auch ganz mühsam aufgebaut werden, und demokratische Alltagskultur ist kein linearer Prozess. Es gibt immer Gefahren in Krisensituationen, wenn nach Sündenböcken geschaut wird. Dass auch von der Politik, aber auch von der Publizistik zum Teil - von einer verantwortungslosen Publizistik - bestimmte soziale Gruppen als Sündenböcke angeboten werden, ich erinnere an dieser Stelle nur an die ganzen Debatten, die Sarrazin-Debatten oder auch Debatten rund um das Thema Islam, die einen rationalen Kern haben, aber auch einen sehr alarmistischen Kern, der in die Richtung von Sündenbockkonstruktionen geht. Und da Achtsamkeit zu erhalten, alltäglich, das ist die Notwendigkeit und die Herausforderung.

Bürger: In Griechenland zum Beispiel erlebt man das ja gerade sehr heftig, wie die Krise des Landes dazu führt, dass es zu immer mehr gewaltsame Ausschreitungen gegen Einwanderer kommt. Also diese Sündenbockgeschichte, die sie gerade angedeutet haben, ist das in Deutschland in ähnlicher Weise auch zu beobachten, dass die Finanz- und Schuldenkrise von den Rechtsextremen ausgenutzt wird?

Seidel: Auf jeden Fall. Also überhaupt für Europa, auch für Zentraleuropa, für Mitteleuropa, für Westeuropa. Wenn wir uns die Wahlergebnisse anschauen in Ländern wie Frankreich, Dänemark, Schweiz, Österreich, Norwegen oder Ungarn oder Rumänien, dann sehen wir, dass rechtspopulistische Bewegungen auf jeden Fall von dieser Krise profitieren. Die einfache Lösungsansätze geben.

Dass in Deutschland noch nicht eine rechtspopulistische Partei diesen Erfolg hatte wie in den Nachbarländern, das hat ganz klar damit zu tun, also mit der deutschen Geschichte, und dass es nach wie vor Gott sei Dank auch ein Tabu gibt, dass rechtspopulistische Parteien von dem allgemeinen demokratischen Spektrum nicht geachtet werden und es eine sehr starke Bewegung dagegen gibt. Was aber nicht heißt, dass es nicht Rechtspopulismus in Deutschland auch gibt, und wahrscheinlich ist diese ganze – nicht wahrscheinlich, sondern die ganze Sarrazin-Debatte über seine Bestandsaufnahme der interkulturellen Gesellschaft ist wahrscheinlich so ein Stellvertreterdiskussion aufgrund einer mangelnden oder einer nicht vorhandenen rechtspopulistischen Partei.

Bürger: Gerade hat ja eine neue Studie der Amadeu-Antonio-Stiftung am Beispiel von acht Bundesländern aufgezeigt, wie der Rechtsextremismus von den zuständigen Behörden über Jahre kleingeredet worden ist. "Das Kartell der Verharmloser" heißt diese Studie, wir haben darüber hier auch berichtet. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es bis heute keine adäquate Aufarbeitung des Pogroms von vor 20 Jahren. Was befürchten Sie, welche Folgen hat solch staatliches Nichthandeln?

Seidel: Ich glaube, ich würde es nicht nur auf den Staat beziehen wollen. Also "Kartell der Verharmloser" ist ein sehr starker Begriff. Also ich weiß, dass auch in den staatlichen Behörden sehr verantwortungsvolle Personen sitzen, die durchaus was tun wollen. Aber die Ereignisse rund um Rostock-Lichtenhagen, also der frühen 90er-Jahre, ich bezeichne das als eine "völkische Revolte", die in diesen Monaten, in Jahren, in Deutschland stattgefunden hat. Die ist in der Tat noch nicht wirklich aufgearbeitet, weil die Versäumnisse der Politik zu dieser Zeit, in jenen Jahren, hat ganz viel damit zu tun, über das, über was wir uns heute unterhalten, beispielsweise auch bei den Ereignissen rund um den nationalsozialistischen Untergrund.

Die Täter der NSU sind Jugendliche, die in diesen Jahren ihre politische Meinung herausgebildet haben, die sozialisiert wurden und die die Erfahrung gemacht haben, dass staatliches Handeln häufig sich ihnen nicht in den Weg stellt, sondern zum Teil, man muss sagen, also, aktiv wegschaut. Also im Falle von Thüringen muss man das so formulieren, und auch diese rechtsextremistischen Terrorzirkel letztendlich auch begünstigt haben.

Ja, das gibt ein ganz großes Versäumnis in dieser Republik. Das muss aufgearbeitet werden. Deshalb fordere ich auch, dass man die ganzen Ereignisse rund um Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen 20 Jahre später mit einem bestimmten geschichtlichen Abstand sich noch einmal anschaut und dann wirklich in der Analyse zu dem Punkt kommt, sich auch Rechenschaft abzulegen. Was hat also zu diesen Taten geführt? Also was war das Zusammenspiel, um daraus Lehren zu ziehen für die Zukunft, also was man zu vermeiden hat.

Bürger: Und wie genau sollte das aussehen? Wer soll da was wie aufarbeiten?

Seidel: Im Prinzip sind das Historiker, die das aufarbeiten müssen, auch eine Historikerkommission wäre da mit Sicherheit auch gefragt. Natürlich muss Politik eine Aufarbeitung der Ereignisse nach 1990 unterstützen, muss auch diese historische Aufarbeitung auch finanziell unterstützen. Also in dieser Form muss das passieren. Und natürlich ist auch Publizistik, sind die Medien auch gefragt, also diesen Prozess zu begleiten.

Bürger: Die Bekämpfung des Rechtsextremismus darf nicht allein dem Staat überlassen werden. Mit dem Publizisten Eberhard Seidel haben wir darüber gesprochen, wie das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen bis heute weiterwirkt. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Seidel!

Seidel: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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