Aktionswoche Suchtfamilien

Am meisten leiden die Kinder

Ein Kind steht mit schmutziger Kleidung, zerrissenen Hosen und verschiedenen Strümpfen in einem unaufgräumten Zimmer.
Regelmäßige Mahlzeiten oder saubere Kleidung - für Kinder aus Suchtfamilien gibt es das oft nicht. © picture-alliance/ dpa
Von Stephanie Ley · 11.02.2019
Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer Suchtfamilie auf - zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Bundesregierung. Hilflosigkeit, Überforderung, Angst und Scham bestimmen ihren Alltag.
Von Musikschule, Sportverein oder mal mit den Eltern verreisen, davon konnte Annika nur träumen. Ich treffe die schlanke und in ihrem schwarzen Rollkragenpulli überaus gepflegt wirkende Frau in Mannheim am Rande eines Kongresses. Über 60 Kilometer ist Annika hierhergefahren, weil sie ihre Geschichte erzählen will. Das Thema liegt ihr am Herzen. Denn ihr eigener Start ins Leben ist mehr als holprig verlaufen. Der Grund:
"Meine Eltern haben beide Drogen genommen, waren beide heroinabhängig", sagt Annika mit leiser Stimme. Dann holt sie tief Luft und beginnt ausführlicher zu erzählen: von der Mietswohnung im Mannheimer Norden, in der sie mit ihrer Mutter und den fünf Brüdern aufwächst. Vom Vater, der an einem anderen Ort lebt und sie dann und wann besucht.

Die Sucht bestimmt den kompletten Alltag

Sie erzählt von der Sucht, die eine immer wichtigere Rolle im Leben ihrer Eltern spielt und irgendwann komplett ihren Alltag bestimmt. Fest ins Gedächtnis eingegraben, haben sich bei ihr ganz bestimmte Szenen:
"Die Drogen wurde auch vor uns genommen. Also, wir haben das auch gesehen, wie unsere Mutter Drogen genommen hat. Gut - der Zustand danach, wenn sie dann so träge wurde und den Kopf in der Suppe hängen hatte, das war nicht so schön! Aber ich habe das in dem Moment gar nicht gewusst, was sie macht, weil, wenn ich zum Arzt gehe, bekomme ich auch eine Spritze."
Eine Drogenabhängige setzt sich einen Schuss: Der Arm ist mit einem Lederriemen abgebunden, mit der anderen Hand sticht sie mit einer grünen Spritze in die Armbeuge.
Nichts, was Kinder sehen sollten: Eine Drogenabhängige setzt sich einen Schuss,© imago/Mavericks
Sechs Jahre alt ist Annika damals. Während sich ihre Altersgenossen voller Freude ins Schulleben stürzen und auf dem Spielplatz herumtollen, plagen sie andere Sorgen. Annika ist überaus schüchtern, will auf keinen Fall auffallen, nirgends anecken, macht ein Geheimnis um die Schwierigkeiten daheim. So lange, bis die ohnehin schon bröckelnde Fassade komplett in sich zusammenfällt!
"Termine in der Schule wurden nicht mehr eingehalten, regelmäßige Nahrungsaufnahme gab es dann gar nicht mehr. Ja, wir wurden dann einfach vernachlässigt, ob jetzt auch von der Hygiene… Es ist überall auch aufgefallen! Ob in der Schule, bei den Nachbarn, bei den Freunden."

Horten als Reaktion auf schwere Vernachlässigung

Nur die Oma gibt Annika etwas Halt, springt ein, wenn der Kühlschrank daheim mal wieder leer ist:
"Die hat eine Straße weiter gewohnt. Dann bin ich immer morgens da vorbei, habe mein Schulbrot geholt und bin dann in die Schule. Also, bei mir wurde das noch aufgefangen. Bei meinen Brüdern – also mein einer Bruder, der ist heute so, der hortet! Also, das ist wirklich ganz auffällig bei ihm! Wenn der einkauft, dann kauft der in Massen ein. Weil er Angst hat, es könnte was ausgehen oder es könnten schlechte Zeiten kommen."
Fachleute sehen darin einen Hinweis auf die schwere Vernachlässigung in frühester Kindheit. Ein typisches Verhalten, wie es bei Kindern aus Suchtfamilien häufiger vorkommt. Auch in Annikas Familie ziehen die Behörden irgendwann die Notbremse. Das Mädchen und ihre Brüder kommen ins Heim. Hier lernt Annika die Sozialpädagogin Hella Talina-Tatomir kennen, zu der sie heute noch Kontakt hat. Und die ihr zur Seite steht, als ihre Mutter früh stirbt.
"Das hat dann auch nochmal ganz viel aufgewühlt bei Annika", sagt sie. "Dann wird einem halt auch deutlich, dass viele Dinge nicht besprochen wurden und auch nicht mehr besprochen werden können. Dass viele Fragen unbeantwortet bleiben, die vielleicht für die Genesung auch gut gewesen wären, aber nie erfolgt sind. Und so gab es verschiedene Stufen von Wut zu Enttäuschung, Trauer, Schuldgefühle und auch eine Sehnsucht nach der Mama, die nie da war."

Die Sozialarbeiterin wurde zum Mutterersatz

Doch Annika ist zäh und kämpft sich durch. Allen Widrigkeiten zum Trotz! Sie treibt Sport, absolviert die mittlere Reife, lernt Einzelhandelskauffrau. Heute ist sie voll berufstätig, lebt in einer festen Beziehung und hat einen großen Freundeskreis. Mit Alkohol oder Drogen hat sie nichts am Hut. Keine Selbstverständlichkeit, da etwa ein Drittel aller Kinder aus Suchtfamilien selbst Abhängigkeiten entwickeln, sagen die Statistiken. Annika ist stolz darauf, wie sie ihren Lebensweg bisher gemeistert hat.
Und sie findet sogar: "Dass ich es eigentlich gut getroffen habe! Dass es gut war, dass ich ins Heim gekommen bin. Dass da reagiert wurde. Also, ich hatte da ein, zwei Betreuer auch, an die ich mich immer gehalten habe, die so ein bisschen Mutterersatz waren. Auch heute noch! Mir wurde da ganz schnell etwas anderes gezeigt. Für mich gerade rechtzeitig! Weil ich nicht weiß, ob ich das überlebt hätte, wenn da jeder die Augen zugemacht hätte."
Hinschauen und bei Not Hilfe suchen, lautet deshalb ihr Appell an die Gesellschaft. Kinder aus Suchtfamilien bräuchten einen rettenden Anker, eine gute Seele, die sich ihrer annehme, damit sie im Leben nicht einfach sang- und klanglos untergehen: "Ich glaube, das ist das, was jedem die Chance gibt, da heil rauszukommen."
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