Aktionsplan gegen Desinformation

Wahrheit – für die AfD nicht vorstellbar

05:03 Minuten
Görlitz am 31.08.2019: Wahlkampfhelfer ziehen vor Beginn einer Wahlkampfveranstaltung der AfD Sachsen eine Husse mit der Aufschrift "Mut zur Wahrheit" über einen Stehtisch.
Es gebe "keine allgemeinverbindliche Wahrheit" heißt es in ihrer Zurückweisung des „Aktionsplans gegen Desinformation“ der EU-Kommission. © dpa-Zentralbild/ dpa/ Sebastian Kahnert
Von David Lauer · 15.03.2020
Audio herunterladen
Wenn die AfD gegen den „Aktionsplan gegen Desinformation“ der EU-Kommission protestiert, dann weil sie sich eine Welt, in der es um Wahrheit geht, gar nicht vorstellen könne. Ganz wie einst Protagoras, der Gegenspieler des Sokrates, meint David Lauer.
Für die AfD ist die Sache klar: Mit ihrem "Aktionsplan gegen Desinformation" ist die Europäische Kommission auf dem Weg, eine "Gesinnungsdiktatur" zu errichten. Als Desinformation bezeichnet die Kommission Behauptungen, die erstens nachweislich falsch sind und zweitens mit dem Vorsatz einer systematischen Täuschung der Öffentlichkeit verbreitet werden.
Die AfD aber wittert hinter diesem Plan das Ansinnen, Meinungen mundtot zu machen, die dem vermeintlichen "linksgrünen Meinungskartell" widersprechen. Angeblich soll nur noch verbreitet werden dürfen, was "denen da oben" genehm ist.

Ein Antrag gegen Faktenchecks, der selbst die Fakten verdreht

Nun könnte man einfach darauf hinweisen, dass keine der von der AfD skandalisierten Zensurmaßnahmen im Plan der Kommission auch nur ansatzweise vorgeschlagen wird. Es ist ironisch, wenn auch vermutlich erwartbar, wenn ein Antrag, der gegen die Förderung unabhängigen fact-checkings Sturm läuft, genau bei einem solchen Faktencheck an der ersten Hürde scheitert.
David Lauer steht für ein Porträt-Bild vor einem grauen Hintergrund.
Schon Protagoras lehrte angeblich, dass jeder die Welt aus seinem persönlichen Blickwinkel betrachte und mit Recht das als seine Wahrheit vertrete, sagt David Lauer.© © Fotostudio Neukölln / Gunnar Bernskötter
Wenn man jedoch verstehen will, wie der Diskurs der AfD funktioniert, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Als dessen fundamentale Prämisse erweist sich nämlich ein Satz, der gleich zu Beginn des Antrags so beiläufig aufgestellt wird, als handele es sich um eine vollkommen evidente Selbstverständlichkeit:
Es gebe bekanntlich "keine allgemeinverbindliche Wahrheit", heißt es dort, und deshalb natürlich auch keine von irgendwem feststellbare allgemeinverbindliche Falschheit. Es gebe nur unterschiedliche Blickwinkel.

Protagoras gegen Sokrates: Keine Wahrheit, nur Perspektiven?

Urplötzlich fühlt man sich in eine Gründungsdebatte der griechischen Philosophie zurückversetzt. Durch den Text hallt das verzerrte Echo der Worte des Sophisten Protagoras, so wie Platon ihn in seinem Dialog "Theaitetos" darstellt.
Protagoras lehrte angeblich, dass jeder die Welt aus seinem persönlichen Blickwinkel betrachte und mit Recht das als seine Wahrheit vertrete, was sich ihm aus dieser Perspektive zeige. Wenn solche relativen Wahrheiten aufeinanderprallen, entstehe eine Art diskursiver Ringkampf, bei dem es allein darum gehe, das Publikum unter Einsatz aller rhetorischen Mittel für sich zu gewinnen.
Wie naiv, wie kindlich sieht dagegen der Vorschlag des Sokrates aus, dass man eine Diskussion auch als Form der gemeinsamen Wahrheitssuche verstehen könne, bei der es nicht um Sieg und Niederlage gehe, sondern darum, sich zusammen aus den je eigenen Beschränkungen zu einer geteilten Wahrheit emporzuarbeiten.

Ein verzerrtes Weltbild

Tatsächlich aber hält Protagoras Sokrates gar nicht für naiv, sondern für infam und gerissen. Dessen Appell an die angeblich überparteiliche Richtschnur der Wahrheit sei nichts als ein Trick – das Deckmäntelchen, mit dem Sokrates zu verschleiern versuche, dass es natürlich auch ihm nur um die Durchsetzung seiner eigenen Standpunkte gehe. Die Wahrheit entpuppt sich als die größte Lüge von allen.
Bei Nietzsche finden wir diesen protagoreischen Verdacht gegen die Wahrheit in seiner kultiviertesten Form. Bei der AfD begegnet er uns eher in der Bierzelt-Variante. Aber nur im Lichte dieses globalen Verdachts lässt sich die schrille Rhetorik der Partei überhaupt verstehen.
Im eindimensionalen protagoreischen Weltbild der AfD kann die Idee, der EU-Kommission könne es ernsthaft um die Förderung wahrheitsorientierter, das heißt überparteilicher Diskursinstanzen gehen, tatsächlich nicht einmal gedacht werden.
Bedauerlicherweise lässt sich das protagoreische Weltbild nicht argumentativ widerlegen, weil jedes kritische Argument in ihm nur als ein weiterer tückischer Manipulationsversuch in Erscheinung treten kann.
Es lässt sich nur performativ aus den Angeln heben: Indem wir so miteinander diskutieren, dass das sokratische Ideal seine in der Wirklichkeit lebendige Kraft zeigen kann. Scheitern wir daran, drohen die Protagoräer am Ende Recht zu behalten.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehr zum Thema