Ai Weiwei zählt die toten Kinder des Erdbebens von Sichuan

Von Ruth Kirchner |
Ai Weiwei ist der bekannteste Künstler Chinas. Der 51-Jährige wurde in Deutschland bekannt, als er vor zwei Jahren 1001 Chinesen zur "documenta" nach Kassel holte. Fast ein Jahr nach dem schweren Erdbeben in der südwestchinesischen Provinz Sichuan verlangt der Künstler und Architekt jetzt Aufklärung über das, was er als Vertuschung der Behörden bezeichnet.
Die Behörden insistieren, dass nicht Pfusch am Bau, sondern die Intensität des Bebens für die hohe Zahl der Toten verantwortlich sei. Aber sie weigern sich bislang, die Zahl der getöteten Schüler zu veröffentlichen. Künstler und Architekt Ai Weiwei, der selbst nach dem Beben in Sichuan war, will die Wahrheit nun ans Licht bringen.

"Wir versuchen, alle Tatsachen zusammenzutragen: Wer ist umgekommen, wie heißen die Kinder, wo sind sie gestorben. Ich finde es völlig unverständlich, wie das passieren konnte. Wir reden von tausenden, vielleicht von 10.000 toten Schülern – und wir haben noch immer keine vernünftige Antworten."

Vor einem Jahr spielten sich in Sichuan erschütternde Szenen ab. Weinende Eltern warteten vor den Trümmern von Schulgebäuden auf Nachrichten von ihren Kindern. Viele machten nicht die Naturkatastrophe, sondern Korruption und Pfusch an Schulbauten für die unverhältnismäßig hohe Zahl von toten Schülern verantwortlich. Zhang Xia verlor ihre 12-jährige, einzige Tochter.

"Das Fundament der Schule war einfach nicht stabil genug. Ursprünglich hatte das Gebäude zwei Stockwerke, aber dann war ein bisschen extra Geld da und da hat man einfach noch ein Stockwerk oben draufgesetzt. Die Schule ist komplett in sich zusammengebrochen."

Seit Ai Weiwei im März anfing, die Namen der toten Kinder im Internet zu veröffentlichen, sind die Listen zu einem stummen Mahnmal angewachsen. Innerhalb von zwei Wochen hatte der Künstler bereits 2500 Namen zusammengetragen, nach drei Wochen waren es schon über 3500. Und jeden Tag werden es mehr. Endlose Listen füllen die Webseite, auf der der Künstler auch seinen Blog veröffentlicht. Ai sagt hinter jedem Namen verbirgt sich eine Tragödie sowie Eltern, die Antworten auf ihre drängenden Fragen verdient haben.

"Wir müssen jeden einzelnen Namen finden. Es geht nicht nur um Zahlen. Es geht uns darum zu dokumentieren, wer diese Kinder waren. Keiner darf das ignorieren oder vertuschen. Das darf nicht sein."

Ai Weiwei weiß, wie heikel sein Unterfangen ist. Eltern, die in den vergangenen Monaten Aufklärung über die Sicherheit der Schulgebäude verlangt haben, wurden massiv eingeschüchtert. Viele haben jetzt Angst, offen ihre Meinung zu sagen. Ein Bürgerrechtler aus der Provinzhauptstadt Chengdu, der die Forderungen der Eltern im Internet veröffentlichte, wurde im vergangenen Jahr verhaftet. In den chinesischen Medien ist das Thema tabu. Doch Ai Weiwei sagt, wenn die Behörden die Informationen nicht herausrücken, müssen die Bürger halt selbst aktiv werden.

"Wir müssen lernen – und anderen beibringen - mit so einer Situation umzugehen. Es geht hier um Bürgerrechte. Es geht darum, wie auch wir als Bürger Verantwortung übernehmen müssen."

Ai und sein Team haben in Hunderten von Telefonanrufen bei den Behörden in Sichuan nach Auskunft verlangt. Zumeist, sagt Ai, wurden sie abgewimmelt. Einige dieser Gespräche hat er im Internet dokumentiert. Der Künstler hat zudem ein Team von Freiwilligen in die Region geschickt, die mit Eltern reden und Namen sammeln. Außerdem plant er einen Dokumentarfilm. Erste Ergebnisse will er bei seiner nächsten Deutschland-Ausstellung im Herbst in München präsentieren. Aber ob das Ganze ein Kunstprojekt ist, lässt er offen. Es gehe bei seiner Arbeit immer um eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sagt er.

"Sie sagen uns, lasst uns das alles vergessen. Es ist doch vergangen. Lasst uns optimistisch sein und die Vergangenheit hinter uns lassen. Das ist völlig falsch. Wir lassen immer die Vergangenheit hinter uns – und dann werden wir von ihr verfolgt. Das heutige China basiert darauf, dass wir uns der Vergangenheit nie stellen."

Die Schrecken der Kulturrevolution der 60er- und 70er-Jahre, die Niederschlagung der Studentenproteste vor 20 Jahren......Chinas jüngere Geschichte kennt Dutzende von Ereignissen, die nicht offen diskutiert werden dürfen.

Umso mehr hat den Künstler die Resonanz auf seine Sichuan-Aktion überrascht. Tausende von Menschen hätten innerhalb weniger Tage auf seinem Blog Kommentare hinterlassen – zumeist positiv, erzählt Ai Weiwei. Chinas Internet wird vom Staat streng kontrolliert. Aber dass sein Blog von den Behörden geschlossen werden könnte, bereitet ihm wenig Kopfzerbrechen.

"Ich mache mir über solche Dinge wenig Sorgen. Wenn man diese Dinge zu sehr in Betracht zieht, bleibt man schließlich untätig. Ich verlasse mich auf mein eigenes Urteil. So bin ich nun einmal. Ich muss Dinge ausprobieren – nur so kann ich die Welt um mich herum begreifen."

Die Namenslisten im Netz werden länger und länger, bislang haben die Behörden nicht eingegriffen. Doch je näher der Jahrestag des Erdbebens am 12. Mai rückt, desto intensiver dürfte die Debatte um den Tod von Tausenden von Kindern geführt werden.