Ahnungslos erregt sich’s besser

Von Reinhard Mohr |
"Die Deutschen hat man entweder an den Stiefeln oder an der Kehle", sagte einst ein britischer Staatsmann. Man könnte es auch anders sagen: Entweder liegt er mit Bier und Knabberzeug träge auf dem Sofa oder er fackelt gleich die ganze Bude ab. Entweder mümmelt der deutsche Michel schläfrig vor sich hin oder er schlägt urplötzlich Alarm, als stünde der Weltuntergang kurz bevor.
Deutschland, ein Wechselbad mit Quietschente.

Doch während der Stimmungswechsel zwischen Innerlichkeit und Größenwahn zu Zeiten von Biedermeier und Kaiserreich immerhin noch Jahre brauchte, so hat sich die Halbwertzeit des deutschen Hin- und Hergerissenseins heute auf Stunden verkürzt. Wer da ein paar Tage lang keine Zeitung liest, hat schnell mehrere Jahrhundertkatastrophen verpasst.

Von der Eckkneipe auf die Barrikaden, vom Fernsehsessel zum nationalen Seelenaufstand und wieder zurück ist es jeweils nur ein kleiner Schritt. Auf ihn aber kommt es an. Es muss etwas geschehen, heißt es dann. Jetzt! Sofort! Sonst ist alles aus!

Das jüngste Beispiel lieferten die Reaktionen auf die neue Klimastudie der Vereinten Nationen. Kauft nicht bei Deutschen! schallte es letzte Woche durchs Land der Autobahnen und Umgehungsstraßen. Kauft beim Japaner! Nichts ist unmöglich.

Die historisch aparte Empfehlung zum Kauf von "Toyota"-Autos statt deutscher CO2-Stinker durch die Grünen-Politikerin Renate Künast war allerdings nicht nur ein bisschen hybrid, hysterisch und kurzatmig, sie war auch ziemlich unvollständig. Denn im gleichen Atemzug hätte Frau Künast vor havarierten japanischen Walfangschiffen in der Antarktis und leer gefischten Thunfischgründen im Indischen Ozean warnen müssen, vor japanischen Holzstäbchen aus dem flächendeckend abgeholzten Regenwald und japanischen Atomkraftwerken, die in hochgefährlichen Erdbebengebieten gebaut wurden.

Am Ende aber hätte sie ausrufen sollen: Stellt deutsche Windräder auf! Weltweit! Sofort und überall! Auch beim Franzmann an der Cote d’Azur!
Sie merken schon: Dem neuen deutschen Alarmismus geht es gar nicht in erster Linie um die oft ziemlich komplizierte, langwierige Sache – es geht um mediale Aufmerksamkeit hier und jetzt. Um die Frage: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Lauteste im Land?!

Dabei wird, im schroffen Gegensatz zu jener sagenhaften "Nachhaltigkeit", die man stets im Munde führt, suggeriert, wer nicht morgen einen "Toyota Prius" kaufe, werde übermorgen schon mit der Badekappe an der Polkappe sitzen und sich einen bösen Sonnenbrand holen.

Dass es in Wahrheit um vielleicht ein, zwei Jahre Vorsprung bei dieser oder jener Umwelttechnologie geht, den der globale Wettbewerb sowieso einschmelzen wird wie Schnee in der Sonne, spielt offensichtlich keine Rolle.

Es scheint ein Bedürfnis nach Aufregung und emotionaler Eruption zu geben. Nach einem Ablasshandel für die Sünden des Alltags, in dem man seelenruhig weitermacht wie bisher. An bestimmten Tagen schlägt man sich flagellantenhaft auf die Brust und ruft "O weh O weh, nie wieder PKW!" – ein kurzes heftiges Purgatorium zwischen "Maischberger" und "Christiansen", und schon wird wieder mit 160 km/h über den Brenner gebrettert. Man hat sich eben nur mal kurz erleichtert.

Denn im Grunde ist der Deutsche ja weder revolutionär noch reaktionär, sondern einfach ziemlich schreckhaft. Ob Vogelgrippe, Handystrahlen oder Mehrwertsteuererhöhung – man fürchtet sich schnell hierzulande und bimmelt dann, wie im fernen Mittelalter, mit dem Pestglöcklein durch die dunklen Gassen. Wenn das Befürchtete, zuletzt: der katastrophale Konjunktureinbruch, wieder einmal ausgeblieben und eher das schiere Gegenteil eingetreten ist, steht, Gottlob, schon der nächste Horror bereit.
Meist in Form einer so genannten Studie.

Ob PISA, Rechtsradikalismus, Krippenplätze oder Konsumentenstimmung – stets ist man schon heilfroh, im weltweiten Ranking knapp vor Togo zu landen. Die neueste "Studie" prophezeit, dass uns 2035 das geburtenstarke Frankreich auch wirtschaftlich überholen wird. Mon Dieu!

Was Martin Luther einst noch mühsam ans morsche Gemäuer schlagen musste, das ist heute die "neue Studie" in der Tagesschau. Sie soll uns züchtigen und ja, auch Angst und Schrecken verbreiten, auf dass alsbald die Läuterung einsetzen möge.

Selbst wenn sie oft fragwürdig sind – meist werden sie wie unumstößliche Glaubensmanifeste behandelt. Die Schreckensbotschaft: Wir werden ständig älter, ärmer, dümmer, dicker und kinderfeindlicher. Vorschlag zur Güte: Die Deutschen werden einfach alle Japaner. Denen geht es zwar genauso, aber sie lächeln wenigstens dabei.

Sajunara und Feng Shui!


Reinhard Mohr, Journalist, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.