Agnès Varda im Jahr 2009 im Gespräch über "Les plages d’Agnès"

Man nennt mich die "Großmutter der Nouvelle Vague"

Agnès Varda
Die Filmemacherin Agnès Varda © imago stock&people
Moderation: Jürgen König · 30.05.2013
Die französische Filmemacherin Agnès Varda wird heute 85 Jahre alt. In ihrem bislang letzten Film "Les plages d’Agnès" blickte sie 2009 humorvoll auf ihr Leben zurück. Hauptdarstellerin war sie selbst: Die Erfinderin der "Cinecriture", eines filmischen Schreibens, das Fiktion und Dokumentarisches zusammenbringt.
Jürgen König: Madame, mit diesem Film "Les Plages d'Agnès – Die Strände von Agnès" erzählen Sie Ihr Leben und Ihre Filme. Der Film beginnt an der Nordsee, am belgischen Strand, man sieht Sie am Meer entlangspazieren. Was haben Strände für Sie, dass sie in Ihrem Film so wichtig sind?

Agnès Varda: Für mich ist der Strand in erster Linie eine Landschaft, und zwar eine perfekte Landschaft, weil es enthält alle Elemente. Es gibt den Himmel, es gibt die Luft, es gibt den Sand, also die Erde, und das ist für mich etwas ganz Komplettes. Und es bereitet mir schon ein ganz große Freude, das alleine zu sehen. Dann bin ich wirklich in der Nähe von Stränden aufgewachsen, ich habe meine Kindheit an den belgischen Stränden verbracht, dann meine Jugend in Südfrankreich in Sète am Mittelmeer, und dann bin ich nach Paris gezogen. Und in Paris gibt es keine Strände, also habe ich mir einen Strand geschaffen und genau vor meiner Produktionsfirma diesen Strand da gelegt.

Und mit Jacques Demy habe ich eine Weile in Los Angeles gelebt, da haben wir auch am Meer gelebt. Dann sind wir später auf eine Insel gezogen, nach Noirmoutier, auch dort gab es wieder Strände. Es ist also keine Lüge, dass ich sehr viel Nähe meines Lebens an Stränden verbracht habe. Und ich liebe das! Und das ist für mich etwas, was ich als sehr essenziell betrachte. Natürlich verbindet man oft Strände mit Sport, mit Schwimmen, aber das ist nicht das, was mich interessiert, sondern für mich ist das Meer einfach auch ein Ort der Reflexion, ein Ort des Betrachtens und des Nachdenkens.

König: Wenn jemand wie Sie einen Film über das eigene Leben denkt, dann denkt man natürlich als Zuschauer unwillkürlich, dass so ein Film auch eine Art Rückschau ist, eine Art Selbstvergewisserung, um das Wort Bilanz damit elegant zu umgehen. Ist das so? Ist das für Sie auch eine Art Rückschau gewesen aufs eigene Leben?

Varda: Nein, Bilanz ist natürlich ein Wort, das Buchmacher verwenden würden. Was mich interessiert, ist dieses Brodeln, dieses kurze Auftauchen dann auch von so kleinen Bläschen, und natürlich, nicht jede Blase taucht dann auch wirklich auf. Und was mich aber besonders interessiert hat, war jetzt nicht eine ausführliche Lebensbeschreibung oder eine ausführliche Rückschau meines Lebens, sondern eine Reise, und vor allen Dingen die Reise, die ich als Filmemacherin seit über 50 Jahren versuche zu machen. Und es geht mir dabei eben auch sehr darum, welche Arbeitsmethode ich für einzelne Filme verwandt habe. Also in diesem Film "Le Bonheur" beispielsweise, da war es so, da haben mich die Farben der Impressionisten so interessiert. In dem Film "Vogelfrei" mit Sandrine Bonnaire, da habe ich immer ganz absichtlich die Kamera von rechts nach links geschwenkt.

Also mir ging es immer auch darum, in diesem Film eine Reflexion über die Art des Arbeitens zu machen und dass ein Stoff und eine Materie immer nach einer Form verlangt. Und diese Form muss man finden. Es ist also ein Film, der nicht nur eine persönliche Reise ist, sondern auch eine Reise über meine Art, Filme zu machen. Und das wollte ich nun nicht wie so ein Witzbold in so einem großen wüsten Spektakel inszenieren, sondern eher als eine kleine, leichte Clownerie, damit der Zuschauer sich nicht vor einer Art Mauer befindet. Ich nehme ihn bei der Hand, ich gehe mit ihm auf einen Spaziergang, und dann setzt man sich hin und reflektiert das, aber auf eine sehr leichte, eher clowneske Art.

König: Und es ist auch sehr viel Träumerisches in Ihrem Film. Zum Beispiel die Szene mit den Trapezkünstlern, die am Strand sich aufgebaut haben, ihre Arbeit machen, hin und her schwingen, sich gegenseitig auffangen vor diesem unendlichen Blau des Himmels über dem Meer. Mir kam das so oder ich nahm es als Ausdruck dafür, als ob Sie selber am liebsten auch Mitglied dieser Artistengruppe sein würden. Liege ich da ganz falsch?

Varda: Ich hab diese Trapezkünstler immer bewundert, weil ich bin als Kind lange Zeit überhaupt nicht ins Kino gegangen. Es gab kein Kino für mich, aber ich war viel im Zirkus. Und diese Trapezkünstler habe ich bewundert und ich hab sie geliebt und auch dieses Voltigieren, und die Produktion hat mir einfach ein Geschenk gemacht und hat es mir ermöglicht, dass eine Zirkustruppe eingeladen worden ist, die dann eben vor dem Hintergrund des Meeres diese Übung ausführt. Weil es ging mir nicht nur darum, dass sie ihre Künste zeigen, sondern ich wollte unbedingt, dass das Meer im Hintergrund zu sehen ist, dass sie wie fliegende Fische wirken. Und Sie haben recht, das ist ein Teil des Erzählens, wenn man gewisse Metaphern findet, die etwas Träumerisches haben. Viele Zuschauer – vielleicht wird das in Deutschland ähnlich sein –, sie lieben einfach diese Szenen von den Trapezkünstlern, die vor dem Wasser und am Strand da ihre Kunststücke aufführen.

König: Wenn man diesen Film als einen Film auch nicht nur von Agnès Varda, sondern auch über Agnès Varda sieht, dann vermisst man ja auch einiges. Es hat ja sehr viele Kontroversen in Ihrem Leben gegeben, zum Beispiel den Skandal von Bertoluccis Film "Der letzte Tango von Paris", am Drehbuch haben Sie mitgeschrieben, das war damals ein großer Skandal, oder eine andere Auseinandersetzung mit der Filmkritikerin Claire Johnston, die Ihnen in einem Buch vorwarf, nun alles andere als feministisch zu sein, sondern ganz im Gegenteil reaktionär, dieses Wort fiel damals. Diese Momente, über die damals sehr viel gesprochen und gestritten wurde – es waren ja große Débats sozusagen –, waren sie Ihnen nicht wichtig genug, dass sie im Film vorkommen?

Varda: Ja, wissen Sie, also das mit dem "Letzten Tango" beispielsweise, das ist gar nicht so eine große Rolle gewesen, wie Sie das jetzt vielleicht glauben. Bernardo Bertolucci hatte das Drehbuch komplett beendet, ich hab da wirklich nur ein bisschen das Französisch mir noch mal angeschaut. Bernardo sprach französisch, aber ich hab einfach nur drübergeschaut, dass das Französisch stimmt. Also mein Einfluss auf dieses Drehbuch war absolut minimal. Aber natürlich hat es Kontroversen gegeben. Wenn ich gewisse feministische Positionen beispielsweise vertreten habe – es gab dieses bekannte Manifest, das ich mit anderen unterzeichnet habe, wo es darum ging, dass man in Frankreich Frauen ins Gefängnis geworfen hatte, die abgetrieben hatten. Und da gab es eine Zeitschrift, die nannte sich "Minute", und die hat sehr böse uns als die 340 Schlampen bezeichnet.

Also solche Momente hat es natürlich auch immer in meinem Leben gegeben. Aber wissen Sie, die Karawane zieht einfach weiter. Und ich bin eine Filmmacherin, die hin und wieder auch mal eine militante Ansicht vertritt, die eine Meinung hat, die sich hier und dort auch mal einmischt, aber ich halte mich dennoch eher für moderat und in erster Linie eben für eine Künstlerin, für eine Filmemacherin, die eben ihre Meinung ab und zu kundtut. Und wenn ich einen Film beispielsweise drehe wie "Les glaneurs et la Glaneuse", also das ist ein Film, da geht es eigentlich um ein sehr ernstes Thema des Müllsammelns, Leute, die von den Resten leben, die andere weggeworfen haben. Aber selbst diesen Film habe ich nicht als eine Soziologin gedreht, sondern auch zum Beispiel mich für die Farbe von Kohlköpfen interessiert oder meine Katzen gefilmt.

Und ich finde, als Künstlerin ist es meine Aufgabe, dem Zuschauer eine Freiheit zu geben, eine Freiheit zu ermöglichen, ihm sozusagen Türen anzubieten, durch die er gehen kann und in die er schauen kann, um dann auf meine Filme wie zum Beispiel jetzt "Die Strände von Agnès" zu sehen und auch über den Film hinaus Dinge zu entdecken. Also ich denke noch mal darüber nach, was Sie gesagt haben über diese Claire Johnston, aber wissen Sie, ich glaube, es ist sehr schwierig, mir vorzuwerfen, ich sei Reaktionärin. Das ist ziemlich unglaublich!

König: Vous avez raison, vous avez raison. Es gibt in diesem Film "Les Plages d'Agnès – Die Strände von Agnès" eine Collage von Fotos. Es gibt sehr viele Collagen, aber eine fiel mir besonders auf. Man sieht so im Kreis drapiert viele große Regisseure des französischen Kinos – Alain Resnais, Jean-Luc Godard, François Truffaut –, die sind alle so im Kreis arrangiert, und in der Mitte ein großes Bild von Ihnen. Ist das so ein augenzwinkernder Kommentar, der, wie Sie ja genannt werden, "Mutter der Nouvelle Vague"?

Varda: Ja, man nennt mich sogar die "Großmutter der Nouvelle Vague", und das schon zu Zeiten, als ich wirklich noch sehr, sehr jung war. Aber das, auf was Sie jetzt ansprechen, ist eine Referenz an ein surrealistisches Bild von Magritte, in dem er sich selbst inszeniert, in der Mitte mit geschlossenen Augen und um ihn herum sind die anderen bekannten Surrealisten wie beispielsweise Éluard oder Breton. Und genau das habe ich sozusagen paraphrasiert, genau das habe ich so ein bisschen als eine Hommage nachgestellt. Also das ist eine Referenz an dieses Magritte-Gemälde.

Und diese ganzen Geburtstage, die es jetzt gibt zur Nouvelle Vague, ich finde das ein bisschen dumm, weil das hat vielleicht zwischen 1959 und 1969 diese Nouvelle Vague gegeben, die dann in der Zeit so genannt wurde, aber es handelte sich ja keineswegs um eine homogene Gruppe, sondern die waren ja sehr unterschiedlich, und das war eigentlich eine gemeinsame Künstlergruppe, die da Filme gedreht hat. Und ja, man nennt mich die "Großmutter der Nouvelle Vague", weil ich 1954 mit "La pointe courte" angefangen habe, Kino zu machen.

König: Madame Varga, dernière question, letzte Frage: Ich habe ja schon einige Regisseurinnen und Regisseure interviewt, aber noch nie jemanden, die während des Interviews auch Filme gedreht hat und Fotos gemacht hat. Sie machen das, Sie haben zu Beginn hier einen kleinen Film über unser Studio gedreht, haben jetzt während des Gespräches den Dolmetscher Jörg Taszman und auch mich als Moderator fotografiert. Was machen Sie mit diesen Bildern?

Varda: Wissen Sie, es gibt zwei Gründe. Der eine Grund ist: Ich möchte mich einfach erinnern, ich hab jetzt hier Ihre Visitenkarte, dann sehe ich mir dieses kleine Filmchen oder die Fotos an – von Ihnen, Herr König, oder auch von dem Dolmetscher –, und dann kann ich mich wieder erinnern. Der zweite Grund ist: Ich bereite gerade für Arte eine Chronik vor, die vielleicht in sechs, sieben Monaten gesendet wird, und das ist eine Chronik, wo ich ganz kleine Gesten einfach nur filme, so kleine Hilfsmittel des Alltags. Also ich drehe, wenn ich im Flugzeug bin, ich drehe, wenn ich auf der Straße gehe.

Aber letztendlich ist das alles nicht so wichtig. Ich selbst bin nicht so wichtig, Sie sind nicht so wichtig, der Dolmetscher ist nicht so wichtig, es ist auch gar nicht so sicher, ob das wirklich Teil dieses Filmes sein wird. Es sind aber Gesten – es sind Gesten des Alltags, und das wird so eine ganz kleine Alltagschronik. Mal schauen, was dabei herauskommt. Ich weiß nicht, was wichtig ist, das weiß niemand, also versuche ich, einfach nur Material zu sammeln, Material des Alltags.

König: Madame Varda, merci pour cet entretien, vielen Dank für das Gespräch. Es war sehr schön, Sie zu Gast zu haben. Ein Gespräch mit der französischen Filmregisseurin Agnès Varda war das. Ihr Film "Die Strände von Agnès" kommt Donnerstag in unsere Kinos. Das Berliner Kino Arsenal zeigt bis Ende September eine Retrospektive Agnès Varda. Merci!

Varda: Danke schön!