Afroamerikanische Religion

Gottesdienst nur barfuß

Von Etienne Roeder |
Die westafrikanischen Gottheiten haben den Ozean während der Zeit der Sklaverei im 16. und 17. Jahrhundert überquert, und heute kann man sich auch in einem Tempel in Berlin-Kreuzberg auf die Suche nach ihnen begeben. Doch nicht jeder hat dieselben Chancen, sie zu finden.
Die Schuhe bleiben im Schneegestöber draußen, denn die Verbindung zu den Kräften der Erde stellt man nur barfuß her. Eigentlich, denn jetzt im Winter, wenn jedes Mal Schnee und eisiger Wind in den Kultraum des Ilê Obá Sileké wehen, müssen Gläubige wie Gäste des Candomblé Hauses besonders stark beten, tanzen und singen.
Im eher pantropischen Berlin-Kreuzberg sammeln sich die Anhänger des brasilianischen Candomblé um Murah Soares, der als Babalorixá, einer Art Priester, dieser Gemeinschaft auch im deutschen Winter spirituell die Linie weist. Der herzliche Brasilianer begrüßt jeden persönlich und lädt durch stundenlange Rituale dazu ein, eine Verbindung mit den Orixás einzugehen. Diese westafrikanischen Gottheiten haben den Ozean während der Zeit der Sklaverei im 16. und 17. Jahrhundert überquert und sind der Schlüssel zur spirituellen Kosmologie des Candomblé. Doch was sind Orixás eigentlich? Und wie erkennt man sie?
"Die Orixás sind Naturkräfte. Orisha mora no vento - der Orixá lebt im Wind, in der Luft, in den Sternen, die Wolken, die Bäume, die Blätter. Es sind nicht nur die vier Elemente, es sind mehr Elemente. Und all diese Elemente sind die Orixás. Wo du bist, ist er auch. Candomblé ist eine Religion, die wurzelt im Vodoo."
Als einziger Babalorixá mit eigenem Tempel ist Muralesimbe der höchste spirituelle Würdenträger des Candomblé in Deutschland. Murah Soares brachte als Tänzer und Choreograph seine Kulturtradition dieser Religion Ende der 80er Jahre aus Sao Paulo nach Berlin. Der Babalorixá stellt die Verbindung zwischen den 16 Orixás, die in Brasilien verehrt werden, und den initiierten Gläubigen her. Wer initiiert werden kann, entscheidet sich zunächst durch die Befragung des uralten Ifá Kaurimuschelorakels, ein Offenbarungsmedium, das nur der Babalorixá oder dessen weibliches Pendant die Yalorixá zu interpretieren wissen.
Im Candomblé gibt es einen allmächtigen Schöpfer
"Und da kann man dann die Antworten sehen und da sieht man, was für eine Position die Person im Candomblé hat."
Der Tempel, in dem heute Altäre mit Mais und Blumen stehen und an dessen Wänden diverse Holzmasken hängen, war früher ein Pferdestall. Entgegen der Jahrhunderte vorherrschenden Meinung der Kirche, beim Candomblé handele es sich um Vielgötterei, gibt es einen allmächtigen Schöpfer in dieser Religion. Dieser ist jedoch so mächtig, dass er nur über seine göttlichen Aspekte, die Orixás verehrt werden darf.
"Das ist Ogun, dunkelblau, das Material von Ogun ist Eisen. Dann kommt Obaluaê. Dieser Orixá bringt dieses Leben zum anderen Leben. Weil Tod im Candomblé ist auch ein anderes Leben. Dann hier kommt Xangó. Der Richter aller Orixá, Element Feuer. Dann kommt seine Frau Iansã, Wind, Flexibilität, Unabhängigkeit. Die Farbe Rot. Oxúm, andere Frau von Xangó, Xangó hat drei Frauen. Oxúm ist Gold, Gold auf dem Fluss."
Die Anbetung der Orixás durch rhythmisch gesungene Gebete und Trancetänze folgt in ihrem Kern den uralten Überlieferungen aus Westafrika. Auch und gerade, weil die Blätter, die essentiell für die Lithurgie sind, für die winterlichen Rituale in Berlin aus Brasilien stammen. Die brasilianische Musikethnologin Nina Graeff promoviert in Berlin zu afrobrasilianischer Musiktradition als verkörpertem Wissen und nimmt regelmäßig an den Ritualen im Ilê Obá Sileké teil.
"Ein großer Unterscheid zwischen Candomblé und christlichen Religionen zum Beispiel ist die zentrale Rolle von dem Körper im Candomblé. Man muss ja auch die Lieder und Rhythmen erkennen können, um die Orixás zu spüren. Und spüren heißt, sie im Körper zu spüren. Jeder hat auch einen eigenen Tanz und auch eigene Rhythmen, sodass, wenn man bestimmte Lieder oder Rhythmen hört oder Tänze sieht, kann man schon erkennen, um welchen Orixá es sich handelt. Man lernt die Tänze, um die Orixás dann empfangen zu können."
Pausen um zu lüften
Mehrere Stunden dauern diese Zeremonien, die jeweils einem spezifischen Orixá gewidmet sind. Immer wieder krümmen sich einzelne Gemeindemitglieder, sinken zitternd zu Boden oder stoßen erschütternde Schreie aus. Das ist der Moment, in dem sich die Orixás im Verständnis der Candomblé Anhänger offenbaren.
"Wenn man Medium ist, hat man die Kraft, in Trance zu fallen. Manche haben diese Kraft sehr stark in sich. Das hat mit Nationalität nichts zu tun. Orixá kennt keine Farbe und keine Nationalität. Orixá hat beide Arme offen und die Türen auch."
Während des Rituals, so weist ein Schild auf Deutsch und Portugiesisch aus, müssen die Türen allerdings geschlossen bleiben. Wird in Brasilien vornehmlich bis tief in die Nacht getanzt und getrommelt, bis alle Gottheiten von den Gläubigen Besitz ergreifen, so gibt es in Kreuzberg Pausen, um zu lüften, und Punkt zehn Uhr schweigen die letzten Trommeln.
"Hier in Deutschland ist ganz normal. Wenn wir singen, jetzt nicht mehr, aber früher haben die Nachbarn die Polizei gerufen. Ich habe hier eine Räucherung gemacht, ja da haben sie die Feuerwehr gerufen. In Brasilien niemand würde sich beschweren über Räucherung. Alleine vom Geruch sie würden merken, dass es eine Räucherung ist und nichts brennt. Sie würden nur kommen, um sich auch zu räuchern."
Nach dem stundenlangen Ritual im Ilê Obá Sileké herrscht eine ausgelassene Stimmung, und der Raum ist von den Tänzen und Gesängen aufgeheizt. Für einen Moment werden auch die nackten Füße der Feiernden warm.