Afghanistans doppelte Flüchtlingskrise

Europa muss ein Zeichen der Menschlichkeit setzen

Afghanische Flüchtlinge, die aus Pakistan in ihr Heimatland zurückkehrten, leben in Zelten in der Provinz Langhman in Afghanistan.
Afghanische Flüchtlinge kehren aus Pakistan zurück. © picture alliance / dpa / Ghulamullah Habibi
Von Emran Feroz · 18.11.2016
Das Land, das zurzeit die meisten afghanischen Geflüchteten aufnimmt, ist Afghanistan selbst. Obwohl dort weiterhin Krieg herrscht, werden Afghanen in ihre Heimat abgeschoben, kritisiert der Journalist Emran Feroz: Auch aus dem Westen, der für die gegenwärtige Situation am Hindukusch mitverantwortlich ist.
Seit Kurzem sind einige Straßen Kabuls geschmückt mit großen Plakaten, die Sharbat Gula zeigen – jenes Mädchen mit den grünen Augen, das 1985 durch ihr Bild auf der Titelseite des "National Geograpfic" weltberühmt wurde. Die Plakate gelten als Willkommensgruß. Seit vergangener Woche befindet sich Gula, mittlerweile Witwe und Mutter von drei Kindern, wieder in Kabul. Nach zwei Wochen pakistanischer Gefangenschaft wurde die Afghanin abgeschoben. Ihr wurde Dokumentenfälschung vorgeworfen.
Rund 2,5 Millionen afghanischen Geflüchteten in Pakistan droht in diesen Tagen die Abschiebung. Viele von ihnen leben seit Jahrzehnten im Land. Doch seitdem sie von Islamabad als "Sicherheitsrisiko" betrachtet werden, wird hart gegen sie vorgegangen. Rund 5000 Afghanen werden täglich abgeschoben – und kehren zwangsläufig in ihre von Krieg geschundene Heimat zurück. Sharbat Gula ist nur eine von ihnen.

Rückkehr als PR-Stunt der Kabuler Regierung

Doch im Gegensatz zu anderen Deportierten wurde Gula vom afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani persönlich empfangen. Die Kabuler Regierung nutzte die Rückkehr des einstigen Flüchtlingsmädchens für einen PR-Stunt. Patriotische Töne wurden angeschlagen. Dabei ist die afghanische Polit-Elite für die afghanische Flüchtlingskrise mitverantwortlich.
In Afghanistan herrscht weiterhin Krieg. Laut der UN wurden im Zeitraum zwischen Januar und September 2016 mindestens 2562 Zivilisten getötet sowie 5835 weitere verletzt. Der Krieg wird hauptsächlich zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften ausgetragen. Doch auch die NATO spielt eine eskalierende Rolle. Erst vor Kurzem wurden ein weiteres Mal zahlreiche Zivilisten – mindestens 36 – durch Luftangriffe in Kunduz getötet. Zeitgleich werden Städte wie Kabul weiterhin von blutigen Selbstmordanschlägen heimgesucht. Es gibt also Gründe genug, warum sich Menschen für eine Flucht entscheiden.
Die afghanische Regierung will davon nichts wissen. Während eines Interviews mit der britischen BBC betonte etwa jener Präsident Ghani, der Sharbat Gula empfangen hat, dass er keine Sympathie für jene empfinde, die in diesen Tagen das Land verlassen würden und fliehen.

Rücknahme-Deal mit der Europäischen Union

Anfang Oktober hat die Regierung einen Deal mit der EU unterzeichnet, der die Abschiebung von einer unbegrenzten Anzahl von Afghanen garantiert. 80.000 Geflüchtete, denen Asyl in der Union verwehrt wurde, können davon betroffen sein. Im Gegenzug wurden Kabul Hilfsgelder in Milliardenhöhe versprochen. Dass diese lediglich ein weiteres Mal in die Taschen korrupter Politiker fließen werden, die ihre Familien schon längst ins sichere Ausland gebracht haben, ist mehr als offensichtlich.
Afghanen stellen nach Menschen aus Syrien weltweit die größte Gruppe von Geflüchteten dar. Doch in Anbetracht der täglich stattfindenden Massenabschiebungen nimmt kein Land gegenwärtig so viele geflüchtete Afghanen auf wie Afghanistan selbst.

Die Zustände im Land werden verdrängt

Hinzu kommen weitere 3,7 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb des Landes. Die meisten von ihnen leben in heruntergekommenen Camps und fliehen regelmäßig von einer Provinz in die andere. Mit einer solchen, doppelten Flüchtlingskrise kann Afghanistan nicht fertig werden. Doch die vorherrschenden, dystopischen Zustände im Land werden in Europa kaum wahrgenommen. Sie werden verdrängt, ignoriert und durch die europäische Politik sogar gefördert. Nach all den Jahren des Krieges am Hindukusch, an dem sich auch westliche Staaten beteiligten, ist das eine Schande, die ihresgleichen sucht.
Nicht nur Europa, sondern vor allem Deutschland muss in diesen Tagen ein Zeichen der Menschlichkeit setzen, indem es die Abschiebung afghanischer Geflüchtete stoppt. Dass deren Heimat nicht sicher ist, sollte nun – nach dem jüngsten Anschlag auf das deutsche Konsulat in Mazar-e Sharif – mittlerweile auch in Berlin angekommen sein.

Emran Feroz ist freier Journalist mit afghanischen Wurzeln. Er berichtet regelmäßig über die politische Lage im Nahen Osten und Zentralasien. Feroz publiziert regelmäßig in deutsch- und englischsprachigen Medien.

Mehr zum Thema