Fluchtgeschichte
Unser Autor ist jetzt in Cottbus in Brandenburg beheimatet. © Deutschlandradio / Khadem Ali Azad
Wie ich mich in der Fremde neu erfand

Khadem Ali Azad kam 2023 im Rahmen des Evakuierungsprogramms aus Afghanistan nach Deutschland. Hier schreibt er von seinem Alltag im Auffanglager, von Rassismus in Afghanistan, aber auch von seinen Hoffnungen und Freuden hier in Deutschland.
Von dem Tag, an dem ich Kabul verließ, bis zu meiner Ankunft in Deutschland vergingen zehn lange Monate – Monate voller Angst, Staub, Straßen, Grenzen und stiller Hoffnung.
Es war der 4. Oktober 2023, als ich endlich den Boden des Berliner Flughafens betrat. Inmitten der Menschenmenge und der fremden Sprache half mir ein Polizist, den Mann zu finden, der mich ins Erstaufnahmelager nach Eisenhüttenstadt bringen sollte. Er zeigte auf einen Mann und sagte: „Das ist Ihr Fahrer, Herr Azad.“
Ein riesiger leerer Bus – nur für mich allein. Ich stieg ein. Alles fühlte sich unwirklich an. Der Fahrer, höflich und wortkarg, verstaute mein Gepäck und fuhr los. Die Straße, der Regen, der graue Himmel – alles war fremd und still.
Ein Meer aus Containern und Gesichtern
Das Lager war eine eigene Welt: ein Meer aus Containern und Gesichtern, Menschen aus allen Teilen der Erde, vereint im Warten. Ein Ort, der nach Sehnsucht roch – und nach Verlorensein. Nur die, die Familie oder Bekannte hatten, schienen ein kleines Stück Freude in sich zu tragen.
Eines Tages kam auf dem Hof ein junger Mann auf mich zu. Sein Blick war leer, sein Lächeln verschüttet. Er wollte reden. Ich spürte, er war neu, vielleicht erst wenige Tage dort. Zögerlich versuchte er, Worte zu finden, doch als ich auf Englisch sagte, dass ich ihn nicht verstehe, wich er zurück, beschämt, enttäuscht. Vielleicht dachte er, ich sei sein Landsmann, denn wir Hazara haben Ähnlichkeiten mit Vietnamesen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nichts tun konnte, um seine Einsamkeit zu lindern. Seine Stille blieb lange in mir.
Mein Geruchssinn, diese Brücke zur Welt, nahm etwas wahr, das mich verwirrte: ein Duft aus Wald, feuchter Erde, Regen – fremd und vertraut zugleich. Nicht wie in Kabul, Teheran oder Islamabad. Aber vertraut, weil er aus der Natur kam, aus jener Quelle, aus der auch ich stamme.
Neugierig wie ein Kind
Meine Ankunft in Deutschland war wie der erste Schritt eines Kindes hinaus in die Welt: ein neugieriges, unsicheres, staunendes Kind, das lernt, mit eigenen Beinen zu gehen. Ich begann, meine Umgebung zu erforschen – fast gierig nach Eindrücken.
Ich betrachtete Bäume, deren Formen ich nie zuvor gesehen hatte, das Spiel von Licht und Blättern, das Schweigen der Wälder. Ich probierte die Früchte wilder Sträucher, roch an jeder Blume, sah Vögeln, Insekten und Schmetterlingen zu. Ich fühlte, wie mein Herz in dieser stillen Vielfalt heilte – langsam, aber spürbar.
Doch meine kindliche Neugier war nur die eine Seite. In mir tobte eine andere Welt – eine Krise.
Klein gemacht und eingeengt
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die Grenzen setzt, die Träume klein macht, die Denken und Fühlen einengt. Ich bin ein Mensch, gezeichnet von Diskriminierung und kulturellem Hochmut. Jahrzehntelang wurden wir Hazara in Afghanistan wegen unserer Gesichter, unserer Herkunft beleidigt. Unsere schmalen Augen, unsere flachen Nasen galten als Schande; „Hazara“ war ein Schimpfwort.
Ich komme aus einem Land, in dem man sich selbst im eigenen Haus fremd fühlt. Den Mantel und die Mütze, die ich damals trug, habe ich nie wieder angezogen – aus Scham, aus Trotz. Aber der Schmerz blieb wie ein Schatten auf meiner Seele.
Mein Inneres war in diesen Rahmen geformt worden. Mein Weg schien einst klar: Journalist, Aktivist, Kämpfer für Gleichheit, Vielfalt, Freiheit, für die Stimme der Natur. Privat: Heirat, Familie, Freundschaften, Wanderungen durch die kahlen Berge von Kabul und Hazaradschat, Lachen, Gedichte, Musik, Tanz.
Alles hinter mir gelassen für einen Neuanfang
Und dann – ein Schnitt. Alles hinter mir gelassen. Vergangenheit, Pläne, Träume, Identität. Ich fiel in eine Welt, in der meine Erfahrungen kaum zählten, in der mein Wissen nutzlos schien, in der Freunde und Familie nur noch Schatten waren. Das ist ein Verlorensein – eine Leere, die sich wie Nebel ausbreitet.
Und doch ist sie auch eine Möglichkeit: eine neue Welt voller Schönheit, aber auch voller Fremdheit, die mich zwingt, mich neu zu erschaffen.
Vielleicht weckt genau das das Kind in mir – jenes innere Wesen, das frei ist, neugierig und ungebunden. Obwohl mein Ausweis sagt, ich sei 31, fühle ich mich oft wie ein Junge von 12 oder 14 Jahren – leicht, offen, lebendig. Ich weiß nicht, wohin mein Weg führt, welche Fähigkeiten in mir schlummern, was aus mir wird. Und das ist in Ordnung.
Schmerzhafter Abschied
Gleichzeitig trage ich in meinem Körper und meiner Seele die Last der dreißig Jahre, die hinter mir liegen – mit Wunden, Erinnerungen, Liebe, Verlust, mit all den Menschen, die ich nicht mehr sehe, aber im Herzen mit mir trage.
Der letzte Tag in meiner Heimat Dschaghuri: ein alter Bus auf einer staubigen Straße, die Musik aus einem Radio, die Melodie der Berge. Meine Eltern begleiteten mich bis Kabul. Eine Nacht hatte ich zuvor in den Händen der Taliban verbracht. Dann entschieden wir, dass ich allein gehen sollte.

Khadem Ali Azad vor seinem schneebedeckten Heimatdorf in der afghanischen Provinz Dschaghuri. © Deutschlandradio / Khadem Ali Azad
Als ich das Dorf verließ, legte sich ein Schmerz über mein Herz – schwer, tief, wie eine Ahnung vom Abschied für immer. Ich weinte still. Mein Vater, sonst stark und stolz, war an diesem Tag alt, müde, gebrochen. Sein Blick verfolgte mich. Dieses Bild, sein stiller Schmerz, trage ich wie eine Narbe in mir.
Auch Deutsche sind verletzend
Am 12. Dezember 2023 hatte ich meinen Termin im Jobcenter Cottbus. Eine Frau registrierte mich, sie sprach Englisch. Als sie hörte, dass ich aus Afghanistan komme, sah sie mich prüfend an und sagte lachend: „Du siehst aus wie ein Mafioso.“ Ich lächelte schwach. Es tat weh.
Ich erklärte, dass ich Journalist und Umweltaktivist bin. Sie sagte, sie habe noch nie jemanden wie mich gesehen, und fragte spöttisch: „Wenn ihr alle flieht – bleibt dann überhaupt noch jemand?“
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, erzählte von den Taliban, von der Gefahr. Sie meinte, der Klimawandel sei eine Lüge, und sie sei sich nicht sicher, ob die Taliban wirklich so schlimm seien. Ich ging hinaus – leer, verletzt, müde. Ich schleppte meine Seele nach Hause und lag den ganzen Tag im Dunkeln.
In der Fremde neu geboren
Und doch – Deutschland hat mir Flügel gegeben. Dieser verletzte Vogel hat hier wieder zu fliegen gelernt. Freiheit – das ist das Wort, das mein Dasein trägt.
In diesen zwei Jahren habe ich mehr gelebt als je zuvor: Ich trank Bier mit einem alten Paar in einem abgelegenen Dorf bei Bremen, lachte mit Fremden in Pelhřimov in Tschechien über den Sieg ihres Eishockeyteams, tanzte in Stratoni in Griechenland auf einem Dorffest, spielte wie ein Kind im salzigen Wasser des Mittelmeers, trank bitteren Kaffee in Kastamonu, spielte Straßentheater in Methoni – und jedes dieser Erlebnisse war ein Geschenk, ein Zeichen des Lebens selbst.
Jetzt, nach zwei Jahren in Deutschland, habe ich unzählige freundliche Herzen getroffen. Ich habe Freundschaften geschlossen, Unterstützung erfahren, neue Wege gesehen. Mein Blick auf die Zukunft ist offen, voller Vertrauen. Ich weiß: Ich werde mich selbst wiederfinden – vielleicht nicht als derselbe Mensch, der ich war, sondern als jemand, der sich in der Fremde neu geboren hat.

