Afghanistan

Die Vogel-Oase von Kabul

Auf dem Vogelmarkt von Kabul präsentieren Verkäufer stolz Rebhühner, die auch bei Vogelkämpfen eingesetzt werden
Auf dem Vogelmarkt von Kabul präsentieren Verkäufer stolz Rebhühner, die auch bei Vogelkämpfen eingesetzt werden © Deutschlandradio / Sandra Petersmann
Von Sandra Petersmann · 26.07.2016
Es ist wie ein Sprung zurück in ein anderes, friedliches Jahrhundert. Wer über den alten Vogelmarkt von Kabul bummelt, erfährt viel über kämpfende Wachteln und das afghanische Herz. Hier ist der ewige Krieg weit weg – wenigstens für ein paar Stunden.
Es zwitschert, gurrt und gackert. In den umherfliegenden Wortfetzen in der proppenvollen engen Gasse geht es um Krallen und um Schnäbel. Um die Dichte der Federkleider und um stimmliche Ausdauer. Das alles mitten in Kabul.
"Wir versuchen herauszufinden, ob diese Wachteln hier Männchen oder Weibchen sind", erklärt ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht, der mit seinem Freund vor einem geflochtenen Wachtelkäfig hockt.
Der alte Vogelmarkt ist eine friedliche Oase in einer ängstlichen Stadt, in der mörderische Anschläge zum Alltag gehören; in der sich die Eliten und Ausländer hinter hohen Sprengschutz-Mauern verbarrikadieren. Aus Angst vor den Explosionen und Entführungen. Abgeschnitten vom Alltag draußen. Doch hier, in der tirilierenden, engen Vogelgasse, ist fast alles so wie früher. Wie vor dem bald 40-jährigen Krieg, als es die Hippie-Bewegung auf der Suche nach einem besseren, friedlicheren Leben auch nach Kabul zog.

"Sie wärmen uns. Sie sind so weich!"

"Wir mögen Wachteln sehr", sagen die beiden alten Männer.
"Sie wärmen uns. Sie sind so weich, und sie singen so schön."
Die meisten der winzigen Häuschen und windschiefen Verkaufsbaracken auf dem alten Vogelmarkt in Kabul sind aus Lehm. Ausgebleicht und wettergegerbt. Keiner hier weiß, wie alt der Markt wirklich ist. Alle sagen: "so alt wie unser Leben!"
Kaka Rahim ist um die 70 Jahre alt. Er verkauft Wachteln. Singende Wachteln und kämpfende Wachteln.
"Wir Afghanen sind ein armes Volk. Wir stehen unter Druck. Vögel sind ein einfacher Weg, um für Entspannung zu sorgen. Ein Vogellied beruhigt die Seele ..."
… erklärt Kaka Rahim und schenkt grünen Tee ein. Aber warum nur lassen die Afghanen im Angesicht von Krieg und Terror auch noch ihre Wachteln kämpfen? Kaka Rahim überlegt und streicht sich bedächtig über seinen weißen Bart.

Vogelkämpfe nach altem Ritus

"Vogelkämpfe sind eine alte, afghanische Tradition. Viele hier sind damit aufgewachsen und kennen nichts anderes. Sie entfliehen dem Alltag, denken an nichts Böses und vergessen den Krieg", erklärt der Wachtel-Verkäufer. Einer seiner Kunden, der eine kleine Wachtel in der Hand hält, nickt eifrig. Der Kopf des Vogels ist kleiner als sein Daumennagel.
"Wenn ich den Vogel nicht in der Hand halte, wird er nie kämpfen, sondern nur singen", erklärt der Kunde fachmännisch. Und ergänzt lachend:
"Ich mag alle Kämpfe. Hundekämpfe, Hahnenkämpfe, Rebhuhnkämpfe. Aber Krieg mag ich nicht."
Er verbringt viele Stunden auf dem Vogelmarkt, um mit seinen Freunden zu fachsimpeln.
Eine richtig starke Kampfwachtel kostet bei Kaka Rahim nach eigenen Angaben bis zu 1000 Euro. Gelogen? Die Summe erscheint astronomisch hoch für einen winzigen Vogel in einem bitterarmen Land. Doch niemand widerspricht. Billiger geht es am Stand nebenan zu. Hier verkauft Samarkhand junge Kampfhähne.

In der Kampfsaison kostet ein Hahn 70 Euro

"Wenn du gute Kämpfer willst, dann musst du den Hähnen besonderes Futter geben. Eierschalen, zerhackte Mandeln, Saatgut, auch Trockenfrüchte", erklärt er bestimmt und greift in einen Jutesack, um einen jungen Gockel mit langen Beinen zu präsentieren. "Gutes Kampf-Material", nicken die Umstehenden. In der Kampfsaison jetzt im Sommer kostet so ein Hahn mindestens 70 Euro.
Afghanische Männer fachsimpeln auf dem Vogelmarkt von Kabul über Wachteln
Fachsimpeln über Wachteln: Bis zu tausend Euro kann einer der Vögel kosten© Deutschlandradio / Sandra Petersmann
Aber das Vogel-Geld sei durch geschicktes Wetten schnell wieder drin, versichern die Männer rund um Samarkhand einstimmig. Vogelkämpfe sind in Afghanistan ein einträgliches Geschäft. Krisensicher. Auch oder gerade mitten im Krieg. Frauen sucht man auf dem alten Vogelmarkt in Kabul vergeblich.
Die meisten Männer hier "suchen aber Musik - für ihr Haus und für ihr Herz", versichert Farhad Nuri. Spitzname Kanari. Nuri ist dem Gesang der Kanarienvögel verfallen.

Singender Vogel, weniger Probleme

"Wenn ich ein Problem habe und die Vögel singen, wird das Problem kleiner. Die besten Kanarienvögel mit den schönsten Stimmen kommen aus Belgien. Sie heißen belgische Wasserschläger", erklärt Nuri.
Ausländische Vögel, auch aus Deutschland und Polen, würden über Pakistan importiert. Der 36-jährige Nuri floh im vergangenen Jahr mit seiner Frau und fünf Kindern nach Deutschland. Eine lebensgefährliche Reise mit Schleppern. Für ca. 36.000 Dollar. Durch den Iran in die Türkei. Über das Mittelmeer nach Griechenland. Über die Balkanroute nach Deutschland. Erst nach Dresden, dann nach Chemnitz.
Nuri gibt offen zu, dass er sich damals anstecken ließ vom großen afghanischen Flüchtlingstreck. Auch er wollte die Chance auf ein besseres Leben in Sicherheit nutzen.

Einmal nach Deutschland und zurück

Doch der lebensgefährlichen Reise folgte die Ernüchterung. Er berichtet vom Leben in der Fremde, von den Sprachschwierigkeiten, dem Gefühl des Nichtstuns und der Arbeitslosigkeit, vom wachsenden Heimweh trotz des Terrors zu Hause, von der lähmenden Traurigkeit nach der großen Euphorie, es geschafft zu haben.
Mit Hilfe der Vereinten Nationen ging es nach sieben Monaten freiwillig zurück nach Kabul. Und für Nuri zurück auf den alten Vogelmarkt in Kabul. Zu seinen Kanarienvögeln ins Familiengeschäft.
"In Deutschland sind die Menschen nicht so verrückt nach Vögeln wie zu Hause. Hier in Afghanistan sind die Vögel ein Teil unseres Lebens", erklärt Nuri.
Als er noch im Aufnahmelager in Dresden lebte, besuchte er oft die Tierhandlung eines großen Supermarkts, um dort die Kanarienvögel singen zu hören.
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