"Afghanistan braucht einen wirtschaftlichen Aufbruch"
Der in Köln lebende afghanische Arzt Chellaram Merzadah sieht die Zukunft seines Heimatlandes nur dann gewährleistet, wenn es in die internationale Gemeinschaft eingebunden wird und einen wirtschaftlichen Aufbruch erlebt.
Gabi Wuttke: Sie sind drin in Afghanistan und kommen so einfach auch nicht wieder raus, die USA und ihre Verbündeten. Seit mehr als acht Jahren versucht das Bündnis, Afghanistan und damit den Rest der Welt zu befrieden, allerdings vergeblich. Das Ruder herumreißen soll die Afghanistankonferenz heute in London. Chellaram Merzadah ist heute in Deutschland praktizierender Arzt. Ich wollte von dem Afghanen wissen, was seiner Ansicht nach Afghanistan vor allem anderen von der Internationalen Gemeinschaft braucht.
Chellaram Merzadah: Also, von der Internationalen Gemeinschaft braucht Afghanistan ein soziales Netz und wirtschaftlichen Aufbruch. Es ist nicht damit getan, dass die Amerikaner wollen 30.000 Soldaten mehr und die Deutschen 500 Soldaten mehr schicken und Afghanistan befrieden. Die einfache Bevölkerung, die seit 30 Jahren in Krieg lebt und groß geworden ist, die stehen vor der Ruine, die haben nach wie vor nichts und sie sind auf sich gestellt. Für Wiederaufbau hat die Weltgemeinschaft kein Konzept gehabt.
Ich kann nur ein Beispiel nennen. Wenn eine Witwe, deren Mann im Krieg gefallen ist oder umgebracht worden ist, von wem auch immer, die mit drei, vier, fünf Kinder allein auf der Straße steht – den Leuten muss geholfen werden. Die Mutter bekommt keine Arbeit, die muss dann auf die Straße gehen, betteln, und die Kinder genauso. Hätte man am Anfang diesen Leuten ein Zuhause oder eine Zukunftsperspektive geboten, hätte man eine gebildete Generation in Afghanistan gehabt.
Wuttke: Herr Merzadah, wenn Sie jetzt sagen, dass die gesamte Strategie der Internationalen Gemeinschaft völlig planlos und nutzlos war – haben Sie dann den Eindruck, dass das, was für die Zukunft jetzt in London vorgelegt wird, soweit bekannt, das, was Sie für Afghanistan fordern, in irgendeiner Weise berücksichtigt?
Merzadah: Schon, weil erste Mal, dass Guido Westerwelle vorgeschlagen hat, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau von Afghanistan vorangetrieben werden soll und ich hoffe, dass die anderen Konferenzteilnehmer dann auch mitwirken, dass dann die Menschen, dass sie eine Zukunftsperspektive haben.
Wuttke: Auch die deutsche Bundesregierung hat eingeräumt, die afghanische Kultur in den letzten Jahren vernachlässigt zu haben. Das soll sich jetzt ändern. Was sind aus Ihrer Sicht die Eckpfeiler der afghanischen Zivilgesellschaft?
Merzadah: Das ist einfach die Bildung, die Religion, Kultur, Musik, Theater.
Wuttke: Das heißt, Burkas, Religionsschulen und die Loja Dschirga, die bestimmt, wer Macht im Land ausübt, das gehört mit zu diesen Eckpfeilern?
Merzadah: Ja. Die Frage ist, wer Loja Dschirga dann wählt und wer in Loja Dschirga dann sitzt, wie die Wahlen stattfinden.
Wuttke: Ja, das heißt aber: Wenn tatsächlich das Land nicht von Wahlen bestimmt wird, sondern von einer Zusammenkunft der Stammesältesten des Landes, dann ist das eine Anerkennung der Kultur, hat aber einen ganz anderen Dreh als die bisherige Strategie der Internationalen Gemeinschaft.
Merzadah: Ja, aber, wissen Sie, freie Wahlen im jetzigen Afghanistan hat nicht so viel Bedeutung wie jetzt freie Wahlen in der westlichen Welt. Ich denke, Afghanistan ist lange noch nicht bereit, freie Wahlen durchzuführen, weil die Menschen gekauft werden dort und die Stimmen genauso.
Wuttke: Das heißt, wo ist der politische Eckpfeiler Afghanistans, wenn man in die Kultur und die Tradition sieht?
Merzadah: Mein Wunsch wäre, dass jetzt eine starke All-Parteien-Regierung dann da sitzt und dann die nur eins im Sinn habt: Afghanistan wieder aufzubauen und voranzutreiben.
Wuttke: Das heißt aber auch, zum Bild der afghanischen Gesellschaft gehören Burkas?
Merzadah: Afghanischer … Ja, gut, das ist jetzt nicht das moderne Afghanistan. Also, Afghanistan – Burka ist dann jetzt in einer Zeit, da Taliban jetzt mehr gekommen. Ich bin 1980 aus Afghanistan gekommen, damals war es modern und da war im Straßenbild der Kabuler City keine Burka zu sehen gewesen.
Wuttke: Sie haben gesagt, Afghanistan sei noch nicht so weit für demokratische Wahlen derzeit. Wie groß ist denn dann der Anteil der, in Anführungszeichen, modernen afghanischen Gesellschaft und der traditionellen, die eben genau auf die Werte setzt, vor denen der Westen in gewisser Weise Angst hat?
Merzadah: Also, die Modernen, die die Westen … das ist also eine Minderheit. Und natürlich dann in den letzten 30 Jahren, also nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan und später kommunistische Herrschaft und später Mudschaheddin und Taliban und besonders in den letzten 20 Jahren, seitdem dann die Sowjets aus Afghanistan zurückgezogen sind - dann hat eine fundamentalistische Islamisierung in der afghanischen Gesellschaft stattgefunden, die es vor der sowjetischen Invasion nicht so gab.
Wuttke: War der Anspruch der Internationalen Gemeinschaft, Afghanistan in eine Westdemokratie verwandeln zu wollen, Ihrer Ansicht nach hochmütig oder naiv?
Merzadah: Naiv und zu früh.
Wuttke: Warum?
Merzadah: Zu früh so, dass wenn jetzt eine so fundamentalistische Islamisierung der afghanischen Gesellschaft und da zu Demokratie zu überzuführen, direkt so eine Demokratie so 1:1 nach westlichem Vorbild, das funktioniert nicht - weil die Leute nicht bereit sind und Leute nicht mehr so die Weltanschauung haben und auch keine politische Bildung haben.
Wuttke: Wie groß ist denn, Ihrer Ansicht nach, der Schaden dieser Naivität?
Merzadah: Relativ hoch. Das muss man also jetzt zurückfahren, das ist wieder schwierig, dass man jetzt eine Regierung da installiert, das eine diktatorische Regierung wäre, ein Herrscher und Präsident wäre, er hätte alles zu sagen und kein Parlament und keine Loja Dschirga, und das zurückzufahren, ist auch schwierig.
Wuttke: Afghanistan – was es ist und was es braucht, dazu die Stimme des gebürtigen Afghanen Chelleram Merzadah, Arzt in Köln. Ob bei einer neuen Strategie für Afghanistan alle am selben Strang ziehen, dazu ausführliche Informationen nach den Sieben-Uhr-Nachrichten.
Chellaram Merzadah: Also, von der Internationalen Gemeinschaft braucht Afghanistan ein soziales Netz und wirtschaftlichen Aufbruch. Es ist nicht damit getan, dass die Amerikaner wollen 30.000 Soldaten mehr und die Deutschen 500 Soldaten mehr schicken und Afghanistan befrieden. Die einfache Bevölkerung, die seit 30 Jahren in Krieg lebt und groß geworden ist, die stehen vor der Ruine, die haben nach wie vor nichts und sie sind auf sich gestellt. Für Wiederaufbau hat die Weltgemeinschaft kein Konzept gehabt.
Ich kann nur ein Beispiel nennen. Wenn eine Witwe, deren Mann im Krieg gefallen ist oder umgebracht worden ist, von wem auch immer, die mit drei, vier, fünf Kinder allein auf der Straße steht – den Leuten muss geholfen werden. Die Mutter bekommt keine Arbeit, die muss dann auf die Straße gehen, betteln, und die Kinder genauso. Hätte man am Anfang diesen Leuten ein Zuhause oder eine Zukunftsperspektive geboten, hätte man eine gebildete Generation in Afghanistan gehabt.
Wuttke: Herr Merzadah, wenn Sie jetzt sagen, dass die gesamte Strategie der Internationalen Gemeinschaft völlig planlos und nutzlos war – haben Sie dann den Eindruck, dass das, was für die Zukunft jetzt in London vorgelegt wird, soweit bekannt, das, was Sie für Afghanistan fordern, in irgendeiner Weise berücksichtigt?
Merzadah: Schon, weil erste Mal, dass Guido Westerwelle vorgeschlagen hat, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau von Afghanistan vorangetrieben werden soll und ich hoffe, dass die anderen Konferenzteilnehmer dann auch mitwirken, dass dann die Menschen, dass sie eine Zukunftsperspektive haben.
Wuttke: Auch die deutsche Bundesregierung hat eingeräumt, die afghanische Kultur in den letzten Jahren vernachlässigt zu haben. Das soll sich jetzt ändern. Was sind aus Ihrer Sicht die Eckpfeiler der afghanischen Zivilgesellschaft?
Merzadah: Das ist einfach die Bildung, die Religion, Kultur, Musik, Theater.
Wuttke: Das heißt, Burkas, Religionsschulen und die Loja Dschirga, die bestimmt, wer Macht im Land ausübt, das gehört mit zu diesen Eckpfeilern?
Merzadah: Ja. Die Frage ist, wer Loja Dschirga dann wählt und wer in Loja Dschirga dann sitzt, wie die Wahlen stattfinden.
Wuttke: Ja, das heißt aber: Wenn tatsächlich das Land nicht von Wahlen bestimmt wird, sondern von einer Zusammenkunft der Stammesältesten des Landes, dann ist das eine Anerkennung der Kultur, hat aber einen ganz anderen Dreh als die bisherige Strategie der Internationalen Gemeinschaft.
Merzadah: Ja, aber, wissen Sie, freie Wahlen im jetzigen Afghanistan hat nicht so viel Bedeutung wie jetzt freie Wahlen in der westlichen Welt. Ich denke, Afghanistan ist lange noch nicht bereit, freie Wahlen durchzuführen, weil die Menschen gekauft werden dort und die Stimmen genauso.
Wuttke: Das heißt, wo ist der politische Eckpfeiler Afghanistans, wenn man in die Kultur und die Tradition sieht?
Merzadah: Mein Wunsch wäre, dass jetzt eine starke All-Parteien-Regierung dann da sitzt und dann die nur eins im Sinn habt: Afghanistan wieder aufzubauen und voranzutreiben.
Wuttke: Das heißt aber auch, zum Bild der afghanischen Gesellschaft gehören Burkas?
Merzadah: Afghanischer … Ja, gut, das ist jetzt nicht das moderne Afghanistan. Also, Afghanistan – Burka ist dann jetzt in einer Zeit, da Taliban jetzt mehr gekommen. Ich bin 1980 aus Afghanistan gekommen, damals war es modern und da war im Straßenbild der Kabuler City keine Burka zu sehen gewesen.
Wuttke: Sie haben gesagt, Afghanistan sei noch nicht so weit für demokratische Wahlen derzeit. Wie groß ist denn dann der Anteil der, in Anführungszeichen, modernen afghanischen Gesellschaft und der traditionellen, die eben genau auf die Werte setzt, vor denen der Westen in gewisser Weise Angst hat?
Merzadah: Also, die Modernen, die die Westen … das ist also eine Minderheit. Und natürlich dann in den letzten 30 Jahren, also nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan und später kommunistische Herrschaft und später Mudschaheddin und Taliban und besonders in den letzten 20 Jahren, seitdem dann die Sowjets aus Afghanistan zurückgezogen sind - dann hat eine fundamentalistische Islamisierung in der afghanischen Gesellschaft stattgefunden, die es vor der sowjetischen Invasion nicht so gab.
Wuttke: War der Anspruch der Internationalen Gemeinschaft, Afghanistan in eine Westdemokratie verwandeln zu wollen, Ihrer Ansicht nach hochmütig oder naiv?
Merzadah: Naiv und zu früh.
Wuttke: Warum?
Merzadah: Zu früh so, dass wenn jetzt eine so fundamentalistische Islamisierung der afghanischen Gesellschaft und da zu Demokratie zu überzuführen, direkt so eine Demokratie so 1:1 nach westlichem Vorbild, das funktioniert nicht - weil die Leute nicht bereit sind und Leute nicht mehr so die Weltanschauung haben und auch keine politische Bildung haben.
Wuttke: Wie groß ist denn, Ihrer Ansicht nach, der Schaden dieser Naivität?
Merzadah: Relativ hoch. Das muss man also jetzt zurückfahren, das ist wieder schwierig, dass man jetzt eine Regierung da installiert, das eine diktatorische Regierung wäre, ein Herrscher und Präsident wäre, er hätte alles zu sagen und kein Parlament und keine Loja Dschirga, und das zurückzufahren, ist auch schwierig.
Wuttke: Afghanistan – was es ist und was es braucht, dazu die Stimme des gebürtigen Afghanen Chelleram Merzadah, Arzt in Köln. Ob bei einer neuen Strategie für Afghanistan alle am selben Strang ziehen, dazu ausführliche Informationen nach den Sieben-Uhr-Nachrichten.