AfD, Piraten und Co.

"Die Protestwahl ist enttabuisiert"

Ein Wahlplakat der Alternative für Deutschland (AfD) mit der Aufschrift "Hamburg muss handeln" und "die Politik!" für die Hamburger Bürgerschaftswahl
Auch die AfD gilt als Protestpartei. © dpa / picture alliance / Daniel Bockwoldt
Christoph Seils im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 09.02.2015
Große Parteien sind out - Protestparteien haben Hochkonjunktur. Das sei besser als viele denken, meint Christoph Seils, politischer Korrespondent des Magazins "Cicero". Denn es zeige, "dass die Demokratie atmet".
AfD, Piraten und andere laufen den etablierten Parteien in der Wählergunst immer öfter den Rang ab. Was so mancher Beobachter als Verlotterung der politischen Kultur deutet, sei gar nicht so schlimm, sagt Christoph Seils, politischer Korrespondent beim Magazin "Cicero".
"Die Gesellschaft ist heterogener geworden, die Interessen sind vielfältiger geworden", erklärte Seils im Deutschlandradio Kultur. Die Protestwahl sei daher kein Tabu mehr: "Es ist erlaubt in der Gesellschaft, wenn einem die großen Parteien nicht gefallen oder wenn einem die Regierenden nicht gefallen, einfach Protest zu wählen." Dies führe dazu, dass es mehr kleine Parteien gebe.
In den vergangenen Jahren habe man den Aufstieg und Niedergang verschiedener Protestparteien erlebt. Seils: "Im Grunde zeigt das, dass das Parteiensystem funktioniert. Die Demokratie atmet". Für die SPD und für die CDU sei das vielleicht nicht so schön. "Aber für die Parteiendemokratie ist es eigentlich ein gutes Zeichen."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Christoph Seils ist jetzt mein Gesprächspartner. Er ist Politikwissenschaftler, politischer Korrespondent des Magazins „Cicero" und hat das Buch „Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien?" geschrieben. Er ist jetzt in Berlin am Telefon. Herr Seils, guten Morgen!
Christoph Seils: Guten Morgen!
von Billerbeck: Ein Begriff, den man in allen Meldungen immer hören konnte von dieser Tagung der SPD-Spitze in Nauen, das war der Begriff der arbeitenden Mitte, und was man darunter verstehen soll, das klafft irgendwie sehr weit auseinander, denn letztlich sind das ja alle, also zwischen dem Hartz-IV-Empfänger und dem Kapitalvermögenbesitzer. Was ist damit gemeint?
Seils: Na ja, das ist jetzt der Versuch der SPD, neue Wählergruppen für sich zu erschließen. Gerhard Schröder hat vor 20 Jahren von der neuen Mitte geredet, also der Versuch, nicht an den Rändern bei den Protestwählern Stimmen zu gewinnen, sondern in der Mitte der Gesellschaft, wo gut verdienende Leistungsträger, Arbeiter, Handwerker, Freiberufler sind, und da will die SPD ran. Da ist die CDU, und da hat es die SPD schwer.
von Billerbeck: Da sind eigentlich alle, bei dieser Mitte, oder?
Seils: Da sind alle, da konzentrieren sich aber auch die Wähler. Die meisten Wähler in Deutschland bezeichnen sich, verorten sich in der Mitte der Gesellschaft, ein bisschen links der Mitte, und deshalb wollen alle an die Mitte-Wähler ran.
SPD verharrt im Umfragetief
von Billerbeck: Nun könnte sich die SPD doch eigentlich auf die Schultern klopfen. Wenn wir zum Beispiel an den Mindestlohn denken, den sie durchgesetzt hat – das ist doch ihr Erfolg. Warum tut sie es nicht?
Seils: Das tut sie ja, nur sie ist unzufrieden, weil die Umfragewerte nicht hochgehen. Dabei ist es für sie relativ schwer, über 25 Prozent zu kommen. Es sind eigentlich gar nicht magere 25 Prozent, eigentlich kann die SPD zufrieden sein, dass sie in der jetzigen Situation die 25 Prozent, die sie da bei der Bundestagswahl erzielt hat, hält. Und wenn man nach der Wahl das macht, was man bei der Wahl versprochen hat, sind die zufrieden, die die SPD gewählt haben, und die anderen sind zufrieden mit Merkel, weil auch Merkel gut regiert.
von Billerbeck: Nun gibt es ja viele ungelöste Probleme in der Partei, einige haben wir ja eben in dem kleinen Beitrag schon gehört. Nehmen wir mal nur die Affäre um den Abgeordneten Sebastian Edathy: Wie gefährlich ist die, auch für die SPD-Spitze?
Seils: Es ist möglicherweise für einzelne Personen gefährlich, da wird ja immer der Name Oppermann genannt. Insgesamt ist es für die SPD nicht gefährlich. Ich glaube, da ist eher der Reflex der Leute: So geht es halt in Berlin zu. Das schürt Vorbehalte gegen die politische Klasse insgesamt. Da schützt man sich vor Ermittlungen, da mauschelt man, da kungelt man. Ich glaube, für die SPD insgesamt ist es nicht gefährlicher als für die Politik in Berlin insgesamt.
von Billerbeck: Warum schafft denn nun aber die CDU, was die SPD nicht schafft? Fehlen denen einfach die richtigen Politiker?
Seils: Also die CDU hat erst mal die Kanzlerin, hat Angela Merkel.
von Billerbeck: Und dann?
Seils: Na ja, erst mal hat sie sie. Angela Merkel ist Kanzlerin, sie regiert, die CDU ist relativ geschlossen hinter der Kanzlerin. Würde man heute eine Umfrage machen bei SPD-Wählern, würden vermutlich mehr SPD-Wähler Merkel zur Kanzlerin wählen als Sigmar Gabriel. So lange Merkel regiert, ist die CDU relativ stabil. Was danach kommt, ist eine ganz andere Frage. Auch die CDU wird sehr viele Probleme bekommen struktureller Art, wenn Merkel nicht mehr da ist. Dann wird es für die CDU eher in Bereiche gehen, wo die weit unter 40 Prozent sind. Aber so lange die CDU mit Merkel regiert, wird die SPD sehr große Probleme haben, deutlich über 25 Prozent zu kommen.
Protestparteien für Wähler immer interessanter
von Billerbeck: Nun bekommt die CDU ja auch Konkurrenz durch die AfD, die SPD hat sie mit der Linkspartei, und Sie haben ein Buch geschrieben „Götterdämmerung" (Anmerkung der Redaktion: Sie meint "Parteiendämmerung") und sagen darin, die Zeit der großen Parteien sei vorbei und sie sei reif für viele kleine Parteien. Was bedeutet das für die Gesellschaft und für die Demokratie?
Seils: Das bedeutet erst mal, das sehen wir ja, dass es Parteien, auch der SPD, sehr schwer fällt, Stimmenanteile deutlich über 30 Prozent zu erzielen. Die Gesellschaft ist heterogener geworden, die Interessen sind vielfältiger geworden. Es gibt mittlerweile mehr Wechselwähler als Stammwähler. Das war vor 30, 40 Jahren ganz anders. Und die Protestwahl ist enttabuisiert. Es ist erlaubt in der Gesellschaft, einfach, wenn einem die großen Parteien nicht gefallen oder wenn einem die Regierenden nicht gefallen, einfach protestzuwählen. Und das führt dazu, dass wir mehr Parteien haben, kleine Parteien haben.
Wir haben ja verschiedene Parteien in den letzten Jahren erlebt. Es gab die WASG, die Linke, es gibt in manchen Bundesländern die Freien Wähler, wir hatten die Piraten, mit einem Hoch jetzt die AfD, und im Grunde zeigt es, dass das Parteiensystem funktioniert, dass die Demokratie atmet. Wenn die Wähler mit den großen Parteien nicht zufrieden sind, wählen sie halt kleine Parteien, die kommen dann hoch, und ein Teil von denen kehrt dann wieder zu den großen Parteien zurück, ein Teil bleibt bei denen. Also für die SPD und für die CDU ist das vielleicht nicht so schön, aber für die Parteiendemokratie ist das eigentlich ein gutes Zeichen.
von Billerbeck: Das sagt Christoph Seils, Politikwissenschaftler und politischer Korrespondent des „Cicero". Heute tagt die SPD-Spitze im Havelländischen Nauen. Ich danke Ihnen!
Seils: Danke, auf Wiedersehen!
von Billerbeck: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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