Ägyptische Befindlichkeiten

Wie sieht man eigentlich in muslimischen Gesellschaften den Westen und insbesondere die westlichen Geschlechterverhältnisse? Diese Frage hat sich die junge Ethnologin Mona Hanafi El Siofi gestellt.
Die deutsche Wissenschaftlerin, die selbst väterlicherseits ägyptischer Herkunft ist, hat ein halbes Jahr in Ägypten Feldforschung betrieben und rund 30 überwiegend berufstätige Frauen der ägyptischen Mittelschicht dazu befragt, wie sie über westliche Frauen in ähnlicher Lage denken und was ihrer Meinung nach die Vor- und die Nachteile der westlichen Moderne sind.

Herausgekommen ist selbstverständlich nicht ein Buch über den Westen, sondern ein Buch über die ägyptische Gesellschaft und ihre Geschlechterverhältnisse – ganz ähnlich, wie auch die hiesigen Debatten über den Islam oftmals eher etwas über unsere eigene Kultur als über die andere auszusagen scheinen. Diese Rückspiegelung ist natürlich gewollt, und Hanafi nutzt sie dazu, gewisse unserer Selbstverständlichkeiten milde in Frage zu stellen – etwa die Überzeugung, wir hätten Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen restlos erreicht. Im Übrigen aber gibt "Der Westen – ein Sodom und Gomorrah?" vor allem einen wirklich interessanten Einblick in die ägyptische Kultur und ihre Befindlichkeit.

In vielem scheinen ägyptische Frauen überraschend nahe an europäischen dran zu sein und ganz vergleichbare Probleme und Wünsche zu haben, etwa beim Thema Erwerbstätigkeit und der Frage nach der Familienvereinbarkeit derselben, beim Ideal einer gleichberechtigten, respektvollen Partnerschaft oder auch bei der Überzeugung, dass es ein feministisches Engagement für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen braucht. Anderes ist fremder, etwa die große Bedeutung des Familienverbandes in Ägypten, das Ideal sexueller Enthaltsamkeit, das zu sehr vielen Heimlichkeiten führt, und auch die in den letzten Jahren offensichtlich wieder sehr zentral gewordene Bedeutung von Religion. Diese hat auch mit einer Abgrenzung vom liberalen, individualisierten und sexuell freizügigen "Westen" zu tun und in diesem Zusammenhang hat das Kopftuch für Frauen neue Bedeutung gewonnen: Es ist jetzt zum ultimativen Symbol für Anständigkeit geworden, mit dem Frauen ihr Bekenntnis zur eigenen Gesellschaft, ihren Traditionen und Werten ausdrücken. Mona Hanafi zeigt diesbezüglich allerdings auf sehr interessante Weise, dass dies nicht ausschließlich einen Rückgang der Emanzipation im Vergleich zu früheren Jahrzehnten bedeutet, wo deutlich mehr Ägypterinnen auch im Bikini herumliefen, sondern auch in mancher Hinsicht weibliche Freiheit ermöglichen kann: Viele Frauen können unter dem Kopftuch unbehelligter ihren sehr eigenständigen Berufen, Karrieren und Interessen nachgehen.

Die Autorin arbeitet sozialwissenschaftlich sehr korrekt; sie kennt sich insbesondere auch mit den Theorien der zeitgenössischen Gender Studies sehr gut aus und verfolgt als roten Faden immer wieder die Frage nach der Emanzipation. Mona Hanafi lässt die Interviewpartnerinnen ausführlich zu Wort kommen, übernimmt aber weder kritiklos deren Selbstdarstellungen noch stülpt sie ihnen einen einseitigen westlichen Blick über. Ihr Buch, das aus einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit hervorgegangen ist, hätte – wie leider viel zu viele Bücher heutzutage – ein präziseres Lektorat und Korrektorat verdient; nichtsdestotrotz ist es spannend und flüssig zu lesen. Vor allem aber gibt es Gelegenheit, sich detailliert mit einer fremden Kultur auseinanderzusetzen und sich jenseits dabei der großen Vorurteile mit den kleinen Realitäten zu beschäftigen. In diesem Sinne ein sehr empfehlenswerter und sachlicher Beitrag gegen die große Hysterie, deren sich die Kulturkämpfer heute befleißigen.

Besprochen von Catherine Newmark

Mona Hanafi El Siofi: Der Westen - ein Sodom und Gomorrah? Westliche Frauen und Männer im Fokus ägyptischer Musliminnen
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2009
212 Seiten, 22 Euro