Adoptiere eine Großmutter

Von Lissy Kaufmann |
Viele Holocaust-Opfer leben in Israel in Einsamkeit. Eine Initiative soll die Überlebenden aus der Isolation helfen. Das Programm heißt "Adopt a Safta" und bedeutet: Adoptiere eine Großmutter. Je zwei Personen kümmern sich um eine Frau, rund 80 Paare gibt es.
Gal Leiferman und Jonathan Josephs sind auf dem Weg zu ihrer neuen Großmutter. Sie steigen an diesem Schabbat die Stufen zu Toni Fichmans Wohnung im Zentrum Tel Avivs hinauf. Seit drei Monaten besuchen die Enkel ihre Safta, also ihre Großmutter.

Beide haben vor kurzem Aliyah gemacht - genau wie Toni. Bei ihr ist das allerdings schon rund 67 Jahre her. Toni ist 84 Jahre alt und Holocaustüberlebende. Sie hat keine Kinder, ihr Mann ist vor drei Jahren gestorben. Mit Gal und Jonathan kommt wieder Leben ins Haus. Mit ihnen spricht Toni auch endlich wieder Französisch: eine der Sprachen, die sie als Jugendliche gelernt hat.

Toni Fichman: "Ich habe einen Anruf bekommen und die Organisation hat mich gefragt, ob ich gerne von zwei jungen Leuten Besuch bekommen würde. Ich habe gesagt gut, wenn es mir gefällt, lade ich sie wieder ein. Ansonsten nicht."

Gal Leiferman: "Bist du zufrieden mit uns?"

Toni Fichman: "Seid ihr denn zufrieden mit mir?"

Gal Leiferman: "Natürlich!"

Jonathan Josephs: "Du bist wie eine Großmutter für uns."

Das Programm, das die Drei zusammenbringt, heißt "Adopt a Safta" - also: Adoptiere eine Großmutter. Rund 80 solcher Paare gibt es derzeit. Immer zu zweit kümmern sich olim chadaschim um einen Holocaustüberlebenden. Jay Schultz hat das Programm ins Leben gerufen. Er selbst kam vor gut sechs Jahren nach Israel. Er war schockiert über die Zahl der einsamen Holocaustüberlebenden, die jährlich zu Yom haShoa veröffentlich wird.

Jay Schultz: "Leider haben wir uns Jahr für Jahr nur über die Situation der Holocaustüberlebenden und ihre Lebensqualität beklagt, aber niemand hat was getan. Ich wollte nicht warten, ich wollte Gutes tun. In Tel Aviv leben 10 000 junge Einwanderer, die meisten ohne Familie in Israel. Und wir haben 50 bis 60.000 einsame Holocaustüberlebende. Warum nicht die beiden Seiten verbinden? Ich musste einfach Gutes tun. Und oft passieren die guten Dinge nicht, weil die Menschen warten. Ich konnte nicht mehr warten."

Die 28-jährige Gal kommt aus Spanien, der 27-jährige Jonathan aus Frankreich. Beide leben seit einigen Monaten in Israel. Verwandte haben sie hier kaum, wie Jonathan erklärt.

Jonathan Josephs: "Meine Großeltern sind in England, eine Großmutter in Jersey. Ich habe Kontakt zu ihnen, aber keine Familie hier. Darum ist es schön, hierherzukommen. Sie ist für mich wie eine Großmutter. Sie backt Kuchen und fragt mich aus."

Wie immer gibt es Kaffee und Kuchen, den Toni selbst gebacken hat. Großmutter und Enkel machen das, was sie am liebsten tun: Plaudern. Auch über Tonis Vergangenheit. Sie kam als junge Frau nach Tel Aviv. Es ist ihre Heimat geworden, auch wenn ihr der Anfang schwergefallen ist:

Gal Leiferman: "Wolltest du in Israel leben oder war es die Idee deines Mannes?"

Toni Fichman: "Meines Mannes. Ich habe viel geweint. Ich wollte nach Frankreich, weil ich in Paris Familie hatte."

Es sind ganz persönliche Geschichten, die sich die drei erzählen.

Gal Leiferman: "Anfangs war es oberflächlicher, aber jetzt weiß sie alles über mein Leben und ich weiß fast alles über ihre Familie, warum sie nach Israel kam und was sie so macht. Und sie weiß sogar, wie viel Miete ich zahle. Sie weiß alles."

Für Jay Schultz sind die Gespräche aber nicht das Einzige. Die Enkel können bei Problemen auch Rückmeldung geben.

Jay M. Schultz: "Die Freiwilligen berichten uns oft, was los ist. Wenn die Großmutter oder der Großvater einen Rollstuhl oder eine neue Matratze braucht. Neulich hatten wir einen Fall, dass das Pflegepersonal die safta nicht gut behandelte. Wir senden dann jemanden, der sich darum kümmert."

Gal und Jonathan verabschieden sich eineinhalb Stunden später von ihrer safta. Sie steigen die Stufen hinab und treten nach draußen. Es scheint ein bisschen wie eine Zeitreise, die Gespräche mit Toni, die von früher erzählt. Ein Thema allerdings haben Gal und Jonathan bisher nicht angesprochen: den Holocaust.

Jonathan Josephs: "Wir wollen nicht zu ihr kommen und fragen: Hey, wo warst du im Holocaust? Was hast du gemacht? Wenn das Thema von allein aufkommt, werden wir vielleicht darüber sprechen. Aber alles zu seiner Zeit."

Vielleicht werden sie Tonis Geschichte nie erfahren. Darauf aber kommt es auch gar nicht an. Viel wichtiger ist, dass Toni mindestens einmal pro Woche Gesellschaft hat, und Gal und Jonathan so etwas wie eine Familie in Israel.
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