Adliger im Widerstand gegen Hitler

Rezensiert von Stephan Malinowski · 09.03.2007
Am 19. Januar 1944 verhaften Gestapo-Beamte in Berlin einen Mann, dessen Biografie zum eindrucksvollsten zählt, was die Geschichte des deutschen Widerstandes zu bieten hat: Helmuth James Graf von Moltke. Der schlesische Gutsbesitzer ist Mittelpunkt einer Gruppe von Hitler-Gegnern, die als Kreisauer Kreis bekannt ist.
Jetzt hat der Bochumer Historiker Günter Brakelmann eine neue Biographie vorgelegt. Die Darstellung ist empirisch dicht, klassisch und unprätentiös geschrieben und dürfte schnell zum Standardwerk über Moltke werden.
Moltkes konsequenter Weg in den Widerstand ist so ungewöhnlich, dass sich zunächst die Frage nach seinen Startbedingungen stellt. Als Mitglied einer berühmten Familie des preußischen Landadels war der Graf Erbe eines eindrucksvollen Schlosses und eines hoch verschuldeten Landgutes. In die zahllosen - später politisch bedeutsamen - Kontakte zu praktisch allen Funktionseliten inner- und außerhalb Deutschlands wurde er buchstäblich hineingeboren. Prägender jedoch werden die untypischen Elemente, zunächst und vor allem der Einfluss seiner Mutter – Dorothy Rose Innes, Südafrikanerin englischer Herkunft. Die Mutter bringt neben der englischen Sprache Kultur, Liberalismus und einen anglophilien, kosmopolitischen Geist in das schlesische Schloss. Prägend wird zudem, dass der Offizierssohn und Nachfahre zweier berühmter Generalstabschefs keinen Militärdienst leistet und einen dezidiert unmilitärischen Habitus entwickelt und bewahrt. Der dritte Faktor ist seine Frau, Freya Deichmann, Juristin aus einer Kölner Bankiersfamilie, die Moltke 1931 heiratet. Wer kein Herz aus Stein hat, wird die Briefwechsel mit ihr, die auch aus der Todeszelle fortgeführt werden, nicht ohne Erschütterung lesen. Neben einer tiefen Liebe bezeugen diese eine große, oft symbiotisch wirkende Nähe in allen privaten, intellektuellen und politischen Bereichen.

Frühzeitig verkehrt der Jura-Student mit intellektuellen und politischen Köpfen aus dem linksliberalen und sozialistischen Lager.
Nach den juristischen Examina im Jahre 1934 absolviert er eine englische Anwaltsausbildung, der Plan nach England zu emigrieren wird jedoch aus politischen und privaten Gründen verworfen. Als Anwalt für Völkerrecht und internationales Privatrecht in einer Berliner Kanzlei verteidigt er jüdische und andere Opfer des Regimes.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wird Moltke Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht. In unzähligen Gutachten bemüht sich der Jurist, Verfolgten zur Flucht zu verhelfen, in Fragen wie Geiselerschießung und Misshandlung von Kriegsgefangenen zu intervenieren. Möglichkeiten, der Mordmaschine ins Rad zu fallen, bieten die Instrumente des Völkerrechts jedoch in dem Maße immer weniger, in dem der Vernichtungskrieg alle zivilisatorischen Regeln außer Kraft setzt.
Der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan erinnert sich später, wie der Graf nach Feierabend in seinem Wehrmachtsbüro die Federalist Papers studierte:

"Es war ein Bild, das ich nie vergessen habe, wie dieser Spross einer berühmten preußischen Offiziersfamilie ... sich des Nachts allein den Schriften der Gründer unserer eigenen Demokratie zuwandte, um dort voll Bescheidenheit nach Ideen zu suchen, wie Deutschland aus seiner Verirrung und Verderbnis hinauszuführen sei. Für mich ist Moltke eine so große moralische Figur und gleichzeitig ein Mann mit so umfassenden und geradezu erleuchtenden Ideen, wie mir im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten der Front kein anderer begegnet ist."

Brakelmann datiert Moltkes Übergang von der Opposition zum aktiven Widerstand auf den Herbst 1938. Hinzu kommen neue Bekanntschaften mit Geistesverwandten, aus denen die Beziehung zu Peter Graf Yorck von Wartenburg heraussticht. Der Widerstandskreis, den die Gestapo später nach Moltkes Landgut Kreisau benennen wird, hat sein erstes topographisches Zentrum in Yorcks bescheidener Wohnung in Berlin-Lichterfelde. Er formiert sich im Sommer 1940.

Auffällig ist der hohe Adelsanteil sowie der starke Einfluss Geistlicher beider Konfessionen, dann aber auch die bedeutende Mitarbeit von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, zu deren prominentesten Vertretern Julius Leber, Wilhelm Leuschner und Adolf Reichwein gehören. Brakelmann deutet Moltke als demokratischen Sozialisten, vorsichtiger ließe sich formulieren, dass seine Positionen mit einem demokratischen Sozialismus kompatibel waren. Zu wenig betont wird hingegen, wie viel Moltkes Denken dem klassischen Konservativismus und der katholischen Soziallehre verdankt.

Moltkes Ideal der kleinen Gemeinschaften – "eine Art konservatives Rätesystem", wie Hans Mommsen formuliert hat, blieb letztlich utopisch. Gedacht als überschaubare politische Ureinheit, welche die vereinzelten Individuen aus den Fängen der Vermassung, Ideologien, Interessengruppen und eines schrankenlos agierenden Staates befreien würden, hat dieses Modell den Weg in die Realpolitik letztlich nicht gefunden. Der Faszination, die von den Konzepten ausgeht, tut dies allerdings keinen Abbruch.

In konspirativen Treffen, die in Berlin und Kreisau stattfinden, diskutiert und plant der Kreis die politische, ökonomische und kulturelle Neuordnung Deutschlands nach dem verlorenen Krieg als radikalen Neubeginn. Verfassungsrechtliche und philosophische Fragen werden ebenso diskutiert wie das Wahlrecht, die Gemeindeordnung und das Recht auf Arbeit, die Rolle der Gewerkschaften und die europäische Integration. Seit Januar 1943 gibt es direkte und konfliktreiche Kontakte zur militärisch geprägten Oppositionsgruppe um Ludwig Beck und Carl Goerdeler. Die Kreisauer Planungen werden somit Teil der Pläne, die Attentat und Staatsstreich kombinieren. Moltke selbst gehört allerdings aus ethischen und politischen Motiven zu den Gegnern eines Attentats. Das Unrechtsregime soll ausbrennen, zusammenbrechen, den Krieg verlieren – eine Haltung, die er erst kurz vor seiner Verhaftung revidieren wird.

Von ebenso großer Bedeutung wie die Planungen für ein Nachkriegsdeutschland sind Moltkes auf zahl- und atemlosen Reisen unternommene Erweiterungen oppositioneller Netzwerke im In- und Ausland. Moltke knüpft, festigt und verschaltet Kontakte zu hohen Wehrmachtoffizieren, Befehlshabern im Westen, Bischöfen, Staatsmännern und Geheimdienstagenten. In Istanbul präsentiert er Ende 1943 amerikanischen Agenten den Plan einer Öffnung der Front im Westen, gefolgt von einem Durchmarsch der Alliierten bis an die Ostgrenzen des Reiches. Die Amerikaner lehnen den Plan ab – zu unsicher erscheint die Haltung der deutschen Generale, zu bindend die bereits gefasste Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Die einsamen Verschwörer, wie Klemens v. Klemperer für diese Lage formuliert hat, werden auf sich zurückgeworfen. Ihre Isolation im internationalen Kontext fügt sich zur Isolation in der deutschen Gesellschaft.
Der Verhaftung im Januar 1944 folgt eine einjährige Zeit in Gefängniszellen, ein Prozess vor dem Volksgerichtshof und Rede-Duelle mit dem fanatischen Gerichtspräsidenten Roland Freisler sowie die entehrend und grausam inszenierte Hinrichtung im Januar 1945.
In der Haft fängt sich Moltke aus depressiven Zusammenbrüchen und geht ungebrochen in den Tod.
Er ist am Ende überzeugt, von Gott bestimmt worden zu sein, die christlichen Werte vor den Vertretern der nationalsozialistischen Unrechts- und Mordmaschine zu bekennen. Fast triumphierend schreibt er über den Prozess an seine Frau:

"Besprochen wurden Fragen der praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter: Dafür allein werden wir verurteilt. Freisler sagte zu mir in einer seiner Tiraden: ‚Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir fordern den ganzen Menschen!’ ... Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der Einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss."

In der langen Interpretationsgeschichte des deutschen Widerstands hat es nicht an Versuchen gemangelt, Moltke als Ausweis für die Widerstandsleistungen der deutschen Eliten darzustellen. Moltkes Widerstand, über den Brakelmann keinerlei Einordnung versucht, ließe sich jedoch auch anders interpretieren – als menschlich und politisch herausragendes Beispiel, an dem sich die Widerstandspotenziale erahnen lassen, welche die deutschen Funktionseliten besaßen, aber nicht nutzten.

Günter Brakelmann: Helmuth James von Moltke - 1907 - 1945. Eine Biographie
C.H. Beck Verlag, München 2007