Adieu, deutscher Sonderweg in Europa
Die Deutschen sehen sich gerne als "Partner unter Gleichen". Eher skeptisch sind sie, wenn Führungsstärke verlangt wird oder sie gar gescholten werden. In der Euro-Krise müssen sie beides erleben, und doch haben sie ihr Verhältnis zu Europa allmählich verändert, stellt Andreas Rinke fest.
Eine einzige Woche im September hat ausgereicht, um Deutschlands Politik nachhaltig zu verändern. Erst verkündet der Präsident der Europäischen Zentralbank, dass die Notenbank gegen bestimmte Auflagen Staatsanleihen angeschlagener Euro-Staaten in unbegrenzter Höhe aufkaufen will. Drei Tage später nickt Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Weg ab. Und sechs Tage später billigt das Bundesverfassungsgericht, dass der dauerhafte Euro-Rettungsschirm ESM trotz der EZB-Politik in Kraft treten darf.
Egal, ob man diese Entwicklung nun begrüßt oder ablehnt – auf jeden Fall bedeutet sie die Aufgabe eines weiteren Teils der Nachkriegs-Identität.
Die erste Säule dieser Identität, nämlich die Selbstbegrenzung beim Einsatz der Bundeswehr auf reine Landesverteidigung, stürzte nach 1991 mit der schrittweisen Ausweitung der Auslandseinsätze in sich zusammen. Die Entwicklung beendete den Sonderweg einer demonstrativen militärischen Zurückhaltung, die nach 1945 ein Reflex auf die deutschen Kriegsschrecken der NS-Zeit gewesen war.
Die zweite Säule des deutschen Sonderweges war die Pflege einer geldmarktpolitischen Orthodoxie, mit der sich die Bundesrepublik einer straffen Trennung von Geldmarktpolitik und Staatsfinanzierung verschrieben hatte. Der Aufgabe der D-Mark und der Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung Euro stimmten die Deutschen nur deshalb zu, weil ihnen die EZB als große Kopie der Bundesbank mit dem Auftrag zur Inflationsbekämpfung verkauft wurde - mit Sitz in Frankfurt.
Nun hat die nötige Stabilisierung der Euro-Zone die Rolle der EZB massiv verändert: Der Euro wird von einer Notenbank verteidigt, die sich immer stärker wie andere Notenbanken der westlichen Welt verhält.
Paradox ist auf den ersten Blick, dass Deutschland seine Sonderwege immer just in dem Moment aufgibt, in denen es besonders stark wirkt. Die Debatte über die Ausweitung der Bundeswehreinsätze und eine größere bündnispolitische Verantwortung begann direkt nach der deutschen Einheit. Der Abgesang auf die geldpolitische Orthodoxie erfolgt genau in dem Moment, in dem Deutschland als die wirtschaftliche und politische Führungsmacht der EU angesehen wird.
Verantwortlich sind drei Gründe. Erstens ist Deutschlands Stärke medial verzerrt und überwertet. Die deutsche Dominanz in der Schuldenkrise ist angesichts eines Anteils am EU-Brutto-Inlandsprodukt von rund 20 Prozent in 2011 nur ein Mythos. In Wahrheit ist die größte Volkswirtschaft der EU ständig auf Kompromisse angewiesen.
Zweitens erfordern die stärkere Integration der 27 EU-Staaten und 17 Euro-Staaten, dass nationale Besonderheiten schrittweise abgeschliffen werden. Deutschland hat deshalb auch schon andere "Sonderwege" aufgegeben, etwa mit der Abschaffung der meisten Diplome im Hochschulbereich. Nun erhöht die Schuldenkrise den Druck, die Euro-Zone homogener zu machen.
Vereinfacht ausgedrückt wurden die Euro-Staaten in den vergangenen drei Jahren tatsächlich etwas "deutscher". Volkswirtschaften werden mit Kontrollen und Sanktionen in Richtung Wettbewerbsfähigkeit und solide Haushaltsführung getrimmt.
Aber im Gegenzug ist Deutschland eben auch "europäischer" geworden. Zugeständnisse der Partner wurden erreicht, weil die Bundesregierung erst einen vorübergehenden, dann einen dauerhaften Euro-Rettungsschirm akzeptierte. Später wurden die Aufkäufe von Staatsanleihen hingenommen.
Der dritte Grund ist, dass Deutschland nach 1990 aus der Rolle eines Zuschauers der Weltpolitik wieder in die Rolle eines Akteurs wechselte. Die militärische und geldpolitische Enthaltsamkeit konnten die Deutschen nur ausleben, weil sie im Schatten der westlichen Verbündeten lebten. Seit der Einheit und dem Ende des Kalten Krieges ist das anders. Heute kann sich Deutschland frühere Unschuld und reine Lehre schlicht nicht mehr leisten.
Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Als politischer Beobachter hat er bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem die internationale und europäische Politik. Heute lebt er als Journalist in Berlin.
Egal, ob man diese Entwicklung nun begrüßt oder ablehnt – auf jeden Fall bedeutet sie die Aufgabe eines weiteren Teils der Nachkriegs-Identität.
Die erste Säule dieser Identität, nämlich die Selbstbegrenzung beim Einsatz der Bundeswehr auf reine Landesverteidigung, stürzte nach 1991 mit der schrittweisen Ausweitung der Auslandseinsätze in sich zusammen. Die Entwicklung beendete den Sonderweg einer demonstrativen militärischen Zurückhaltung, die nach 1945 ein Reflex auf die deutschen Kriegsschrecken der NS-Zeit gewesen war.
Die zweite Säule des deutschen Sonderweges war die Pflege einer geldmarktpolitischen Orthodoxie, mit der sich die Bundesrepublik einer straffen Trennung von Geldmarktpolitik und Staatsfinanzierung verschrieben hatte. Der Aufgabe der D-Mark und der Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung Euro stimmten die Deutschen nur deshalb zu, weil ihnen die EZB als große Kopie der Bundesbank mit dem Auftrag zur Inflationsbekämpfung verkauft wurde - mit Sitz in Frankfurt.
Nun hat die nötige Stabilisierung der Euro-Zone die Rolle der EZB massiv verändert: Der Euro wird von einer Notenbank verteidigt, die sich immer stärker wie andere Notenbanken der westlichen Welt verhält.
Paradox ist auf den ersten Blick, dass Deutschland seine Sonderwege immer just in dem Moment aufgibt, in denen es besonders stark wirkt. Die Debatte über die Ausweitung der Bundeswehreinsätze und eine größere bündnispolitische Verantwortung begann direkt nach der deutschen Einheit. Der Abgesang auf die geldpolitische Orthodoxie erfolgt genau in dem Moment, in dem Deutschland als die wirtschaftliche und politische Führungsmacht der EU angesehen wird.
Verantwortlich sind drei Gründe. Erstens ist Deutschlands Stärke medial verzerrt und überwertet. Die deutsche Dominanz in der Schuldenkrise ist angesichts eines Anteils am EU-Brutto-Inlandsprodukt von rund 20 Prozent in 2011 nur ein Mythos. In Wahrheit ist die größte Volkswirtschaft der EU ständig auf Kompromisse angewiesen.
Zweitens erfordern die stärkere Integration der 27 EU-Staaten und 17 Euro-Staaten, dass nationale Besonderheiten schrittweise abgeschliffen werden. Deutschland hat deshalb auch schon andere "Sonderwege" aufgegeben, etwa mit der Abschaffung der meisten Diplome im Hochschulbereich. Nun erhöht die Schuldenkrise den Druck, die Euro-Zone homogener zu machen.
Vereinfacht ausgedrückt wurden die Euro-Staaten in den vergangenen drei Jahren tatsächlich etwas "deutscher". Volkswirtschaften werden mit Kontrollen und Sanktionen in Richtung Wettbewerbsfähigkeit und solide Haushaltsführung getrimmt.
Aber im Gegenzug ist Deutschland eben auch "europäischer" geworden. Zugeständnisse der Partner wurden erreicht, weil die Bundesregierung erst einen vorübergehenden, dann einen dauerhaften Euro-Rettungsschirm akzeptierte. Später wurden die Aufkäufe von Staatsanleihen hingenommen.
Der dritte Grund ist, dass Deutschland nach 1990 aus der Rolle eines Zuschauers der Weltpolitik wieder in die Rolle eines Akteurs wechselte. Die militärische und geldpolitische Enthaltsamkeit konnten die Deutschen nur ausleben, weil sie im Schatten der westlichen Verbündeten lebten. Seit der Einheit und dem Ende des Kalten Krieges ist das anders. Heute kann sich Deutschland frühere Unschuld und reine Lehre schlicht nicht mehr leisten.
Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Als politischer Beobachter hat er bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem die internationale und europäische Politik. Heute lebt er als Journalist in Berlin.