Adania Shibli: „Eine Nebensache“

Im Schatten der Vergangenheit

06:39 Minuten
Das Cover zeigt abstrakte Rastermuster in verschiedenen Farben.
© Berenberg

Adania Shibli

Übersetzt von Günther Orth

Eine NebensacheBerenberg, Berlin 2022

116 Seiten

25,00 Euro

Von Carsten Hueck · 11.06.2022
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Ein Beduinenmädchen wird von israelischen Soldaten verschleppt. Eine junge Plästinenserin will den Vorgängen 50 Jahre später nachspüren - und gerät dabei selbst ins Lebensgefahr. Adania Shibli stellt in ihrem Roman die Frage nach Schuld und Gewalt.
Hitze, Wüste, Eintönigkeit. Ende der 1940er-Jahre - Israel hat sich gerade als Staat gegründet - ist eine Gruppe Soldaten an der Grenze zu Ägypten stationiert. Sie sollen die Gegend überwachen und das Eindringen arabischer Freischärler verhindern. Junge Männer, die außer Waschen, Essen und täglichen Patrouillenfahrten nichts zu tun haben.
Ihr Kommandeur wird eines nachts von einem Spinnentier gebissen. Die Wunde entzündet sich und trübt seine Wahrnehmung. Als er mit seinen Leuten überraschend auf eine Gruppe Beduinen trifft, lässt er sie und ihre Kamele umgehend erschießen. Die einzigen Überlebenden, ein Hund und ein junges Mädchen, nimmt er mit ins Camp.

Historisch verbürgter Mordfall

In nüchternem, sachlichem Ton beschreibt die palästinesische Autorin Adania Shibli einen historisch verbürgten Vorfall, der erst zu Beginn der Nullerjahre durch die Veröffentlichung eines israelischen Journalisten publik wurde. Das Beduinenmädchen war von den Soldaten vergewaltigt und danach erschossen worden.

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Im Roman verknüpft Shibli diese Geschichte mit der einer namenlosen Ich-Erzählerin, einer jungen Palästinenserin aus Ramallah. Sie liest den Artikel und stellt fest, dass sie genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Geschehen geboren wurde.
Diese „Nebensächlichkeit“ geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie leiht sich den Ausweis einer israelischen Kollegin und macht sich im Mietwagen zum Ort des Geschehens auf, getrieben von der Idee, dem Opfer eine Identität zu geben und viele Jahre später noch „die ganze Wahrheit über diesen Vorfall herauszufinden.“

Vom Leben unter Besatzung

Das Leben dieser jungen Frau ist stark geprägt vom Alltag unter israelischer Besatzung. Ihr Bewegungsradius ist eingeschränkt, sie ist unruhig und ängstlich.
Auf ihrem Weg von Ramallah nach Jaffa und dann weiter in die Wüste Negev gerät sie leicht in Panik: Sie muss Checkpoints passieren und ist immer wieder irritiert. Denn die Landschaft hat sich stark verändert. Sie muss sich zwischen neuen Siedlungen auf neuen Straßen bewegen, neue Namen stehen auf der Karte, anhand derer sie versucht, sich zu orientieren - und die nichts mehr mit der von 1948 zu tun hat, die sie ebenfalls mitgenommen hat.

Das Nebensächliche macht die Geschichte groß

Adania Shibli hat in ihrem Buch zwei kleine, atmosphärisch ungemein dichte Geschichten miteinander verbunden. Im Zusammenspiel erzählen sie beispielhaft von der Geschichte Israels und der Situation der Palästinenser. Deutlich wird, dass strukturelle Gewalt ebenso wie jene aus Gewehrläufen Menschen verunsichert und zu Objekten macht, Angst erzeugt, Seele und Körper deformiert.
Scheinbar Nebensächlichem kommt in einer solchen Situation, in der Menschen sich nicht gleichberechtigt begegnen, schnell eine große und mitunter verhängnisvolle Bedeutung zu. Und so ist nichts in diesem Buch nebensächlich, kein Hundegebell, keine eiternde Wunde, kein Kaugummipäckchen.
Alles erzählt etwas und lässt dabei aber dem Lesenden noch genügend Raum für eigene Gedanken. Das macht dieses kleine Buch groß.
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