Abu Hanieh und Abu Rumman: "Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod"

Warum Frauen in den Dschihad ziehen

Im Vordergrund ein Cover des Buchs von Hassan Abu Hanieh, Mohammad Abu Rumman: "Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod", im Hintergrund eine IS-Flagge.
Zwei Experten haben 50 Dschihadistinnen porträtiert und stellen fest: Der Märtyrertod fasziniert die jungen Frauen wenig. © Cover: J.H.W. Dietz Nachf. , Hintergrund: AFP
Von Thorsten Gerald Schneiders · 29.10.2018
Was treibt Frauen dazu, sich archaisch denkenden Islamisten anzuschließen? Zwei Experten arbeiten in ihrem lesenswerten Buch heraus, dass es politische und persönliche Gründe gibt und dass der IS als erste islamische Bewegung Frauen in einer neuen Rolle aufnahm.
Mehr als ein Wort im Haupttitel braucht es nicht, um Thema und Problem präzise zu benennen: "Dschihadistinnnen". Frauen, die sich im Kampf für die islamistische Sache einbringen, sind ein Faszinosum für Laien wie für Experten.
Bis heute ist der weibliche Dschihad ein Desiderat der Radikalisierungs-Forschung, eine Frage, auf die man sich qualifizierte Antworten wünscht. In den vergangenen Jahren kamen erste Schriften zum Thema heraus. Dazu gehört diese qualitative Studie von Hassan Abu Hannieh und Mohammad Abu Rumman. Sie stoßen mit ihrem Buch somit in eine sehr interessante Lücke.
Man weiß beziehungsweise spürt seit langem, dass Frauen eine gesteigerte Bedeutung in der Szene als Propagandistinnen und Unterstützerinnen der Dschihadisten haben. Die Terror-Gruppe IS rief ein eigenes Frauen-Bataillon ins Leben: die al-Khansâ’-Brigade.

Was treibt Dschihadistinnen?

Aber was treibt Frauen dazu, etwaige Freiheiten preiszugeben und sich der archaischen Denkweise von Islamisten anzuschließen? Sich freiwillig vollzuverschleiern, Männern unterzuordnen, im Haushalt zu bleiben, keine Musik zu hören? Gerade unter dem IS, der das gemäß Propaganda strikt fordert, stieg die Zahl der Rekrutinnen stark an.
Diese Fragen zu beantworten, sind die beiden Autoren angetreten. Sie leben und arbeiten in Jordanien und sind als Experten für Extremismus bekannt. Sie stellen die Perspektive arabischer Frauen ins Zentrum, beziehen aber auch das Phänomen im Westen mit ein. Denn es sind nicht nur Araberinnen, die sich dem IS angeschlossen haben, sondern auch westliche Frauen. Die Autoren gehen von 550 aus, etwa zehn Prozent aller "Rekruten" aus Europa und den USA.
Den Anfang des Buches macht ein historisch-theoretischer Teil. In einer quellenreichen Darstellung zeichnen die Forscher die Stellung von Frauen in islamistischen Bewegungen nach. Frauen spielten demnach bis in die Nullerjahre eine eher randständige Rolle. Sie galten primär als Erzieherinnen und Gebärerinnen von Dschihadisten. Das änderte sich mit dem IS, der die Einsatzbereitschaft von Frauen dankend aufnahm und sie für seine Zwecke nutzte.
Der zweite Teil des Buchs besteht dann aus Fallbeispielen. Porträtiert werden knapp 50 Frauen aus Nordafrika, dem Nahen Osten, aus Saudi-Arabien, Europa und den USA, die sich Dschihadisten angeschlossen haben oder dies tun wollten. Auf sie stießen die Autoren über ein Schneeball-System. Repräsentativ sind ihre Ausführungen damit nicht.

Suche nach dem Wendepunkt im Leben

Die Studie basiert nicht auf Interviews, sondern auf schriftlichen und mündlichen Zeugnissen der Frauen oder ihres Umfelds. Die Forscher suchten dabei "den Wendepunkt" im Leben der Protagonistinnen, den Punkt, an dem die Radikalisierung einsetzte.
Wegen der geringen wissenschaftlichen Vorarbeiten ist eine solche Studie höchst mühsam und mit viel Recherche und Quellenkritik verbunden. Die Informationen über die Frauen bleiben lückenhaft und bieten oft eine wenig befriedigende Detailschärfe. Dennoch gelingt es den Autoren, ein Bild von den verschiedenen Motivationen der Frauen zu zeichnen, und damit wichtige Hinweise für die Präventionsarbeit zu liefern.
Der vermeintliche Widerspruch zwischen Frauen und Islamismus ist den Autoren zufolge ein Ergebnis klischeehafter Vorstellungen, genährt durch reißerische Medienberichte, islamistische und anti-islamische Propaganda im Westen und in der arabischen Welt.
Abu Hanieh und Abu Rumman räumen auf mit Vorstellungen von Dschihad-Bräuten, religiöser Gehirnwäsche, verzweifelten, geisteskranken oder naiven Frauen. Die Gleichung "Terrorist = arm und ungebildet" gilt schon lange als widerlegt.

Politik und Persönlichkeit

Nach den Erkenntnissen der Autoren gibt es zwei Hauptschlüssel zum Verständnis des weiblichen Dschihads: Politik und Persönlichkeit. Beide wirken als Pull- und Push-Faktoren. Die einen ziehen Frauen zum IS, die anderen treiben sie ihm in die Arme.
Zum einen vergrault sie die unzureichende Fähigkeit von Gesellschaften, Muslime zu integrieren, und eine als feindselig wahrgenommene Politik gegenüber der islamischen Welt.
Zum anderen lockt der IS mit islamischer Identität als Ausgleich für Integrations-Defizite oder persönliche Mängel, mit idealisierter Umsetzung der Scharia und romantisiertem Familienleben. Die Autoren sprechen hier von einem "alternativen politischen Projekt" zur westlichen Moderne und zu den arabischen Regimes.
Die meisten Erkenntnisse des Buchs decken sich mit den allgemeinen Erkenntnissen europäischer Terrorismus-Forscher wie dem Deutschen Peter Waldmann oder dem Franzosen Olivier Roy. Man gelangt unweigerlich zu dem Schluss: Offenbar gibt es gar nicht so viele frauenspezifische Radikalisierungsgründe. Der weibliche und männliche Dschihad ähneln sich an dieser Stelle mehr, als man glauben mag.

Märtyrertod ist nicht das Ziel

War der kurze Titel des Buchs noch zu loben, scheint der Untertitel indes den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie unterworfen zu sein. "Faszination Märtyrertod"? Dem widersprechen die Autoren selbst, wenn sie schreiben: "Wir glauben, dass die meisten Mädchen und jungen Frauen, die diesen Weg gegangen sind, nicht Tod und ‚Martyrium' anstreben, sondern in erster Linie anders leben wollen."
Dem Verlag gebührt trotzdem Dank, dass er solche Forschungen aus dem arabischen Raum einem breiteren Leserkreis zugänglich macht und mit Günther Orth einen versierten Übersetzer dafür gewonnen hat.
Fazit: Während es bei populären Büchern sonst oft darum geht, eigene Narrative zu verbreiten, gehen hier zwei Experten unaufgeregt und ideologiefrei an ein hoch emotionales Thema heran. Ein lesenswertes Fachbuch mit garantierten Erkenntnisgewinnen.

Hassan Abu Hanieh, Mohammad Abu Rumman: Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod.
Aus dem Arabischen übersetzt von Günther Orth.
J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2018
304 Seiten, 22 Euro

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