"Absurdität des Überlebens"

Der ungarische Autor István Örkény kämpfte für Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, geriet dann in die Hände der Sowjets. In seinem Roman "Das Lagervolk", der nun erstmals in deutscher Übersetzung erscheint, liefert Örkény eine soziologische Schilderung seiner Erlebnisse in Gefangenschaft.
Schilderungen ehemaliger Gefangener nationalsozialistischer Konzentrationslager bilden ein eigenes literarisches Genre. Viele sind rein dokumentarisch. Doch manchen Autoren gelingt es, ihre einmalige existenzielle Erfahrung so in Literatur zu transformieren, dass sie über den Anlass hinaus tiefe, erschütternde Einblicke in die Conditio humana gibt.

Auch der ungarische Autor István Örkény vermag das. Er schildert ein Lager anderer Art. Eines, das verstärkt wieder ins Blickfeld geraten ist. Warlam Schalamow hat ein solches in seinen "Erzählungen aus Kolyma" beschrieben, Herta Müller in "Atemschaukel": ein sowjetisches Gefangenenlager.

István Örkénys Roman "Das Lagervolk", 1947 in Ungarn erschienen, liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Imré Kertész, der das Nachwort zu dieser Ausgabe geschrieben hat, bezeichnet ihn als "Rohstoff" für Örkénys präzise und zugleich absurden "Miniaturnovellen", die den Autor auch in Deutschland bekannt machten.

Örkény, 1912 in Budapest geboren, nahm aufseiten der Deutschen am Zweiten Weltkrieg teil. Im Januar 1943 geriet er für mehrere Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Als "Chronist" notiert er, was er im Lager hört und sieht. Zeichnet "mit einem Bleistiftstummel auf Tabaktüten" einen Kosmos. Reflexionen menschlichen Verhaltens, Selbstbeobachtungen und soziologische Betrachtungen - beispielsweise zur sozialen Herkunft der Gefangenen, ihren kulturellen Vorlieben und Essgewohnheiten, der jeweiligen Definition von "Heimweh", dem Stellenwert der Familie oder auch die Auflistung benötigter Kalorien - machen den Kern des Buches aus.

Darüber hinaus sind dieser Ausgabe acht Gesprächsprotokolle weiterer Gefangener beigegeben. Auch ein Brief des Übersetzers Laszlo Kornitzer, ein erhellender Anhang und Dokumente zu Entstehung und Rezeption des Romans.

Örkény selbst beschrieb ihn als "Soziographie des Kriegsgefangenenlagers". Das klingt sachlich, dem Geist des wissenschaftlichen Zeitalters entsprechend - der Autor hatte im Prominentenlager Krasnogorsk die von den Sowjets zur "Umerziehung" eingerichtete "zentrale antifaschistische Schule" durchlaufen.

Er verzichtet weitgehend auf Beschreibung der sowjetischen Ordnungsmacht und konzentriert sich auf die inhaftierten ungarischen Gefangenen - deren Situation er als Prüfung im Leiden versteht. Sie zu bestehen, befähige dazu, auch in Freiheit Herausforderungen, insbesondere die gesellschaftlichen, anzunehmen. Der Autor will suggerieren, dass die mit deutschen Faschisten verbündeten Ungarn in Zukunft sowjetgesellschaftsfähig seien. Obwohl Örkény also der Lagererfahrung etwas Positives abgewinnen will, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben versucht, wurde er nach Veröffentlichung erster Passagen des Romans angegriffen - weil er die Güte der Sowjetmenschen nicht genügend gewürdigt habe.

Tatsächlich sind die Beschreibungen der "Absurdität des Überlebens" viel eigenwilliger, klüger und formal ansprechender als es eine rein politische Absicht erlaubt. "Die Kriegsgefangenschaft ist die Zeit der großen Erzählungen", sagte Örkény in einem Interview 1970. "Das Lagervolk" belegt das auf beeindruckende Weise.

Besprochen von Carsten Hueck

István Örkény: Das Lagervolk
Aus dem Ungarischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Laszlo Kornitzer. Nachwort von Imre Kertész
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
382 Seiten, 34 Euro
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