Absturz ins wissenschaftliche Nichts

Thomas Prahl im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 12.10.2009
Mit einem offenen Brief haben sich 150 russische Wissenschaftler, die allesamt im Ausland arbeiten, an die russische Regierung gewandt. Sie fordern Geld und Strategien, um die Abwanderung russischer Spitzenkräfte ins Ausland zu stoppen. Thomas Prahl vom DAAD sagte, auch die vielgelobte Naturwissenschaft sei heute in Russland nur auf "Unterweltniveau".
Klaus Pokatzky: Die Russen haben 1957 den ersten Satelliten in den Weltraum geschossen, den Sputnik. Da hießen die Russen noch Sowjets. Ihre Hündin Laika war 1957 das erste Lebewesen von der Erde im All. Ihr Kosmonaut, Juri Alexejewitsch Gagarin, war 1961 der erste Mensch im Weltraum. Das waren noch Zeiten, als die Russen noch Sowjets hießen und den Amerikanern in der Grundlagenforschung etwas vormachten.

Heute sieht es in Russland mit der Forschung düster aus. 40 russische Spitzenforscher, die im Ausland arbeiten, haben sich jetzt mit einem offenen Brief an ihren Präsidenten Dmitri Medwedew gewandt und verlangen Finanzen und Strategien, damit nicht noch mehr Forscher ins Ausland abwandern, damit die russische Forschung nicht noch mehr ins internationale Hintertreffen gerät.

Im Studio in Bonn begrüße ich nun Thomas Prahl, den Leiter des Referats Mittelosteuropa beim Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD. Guten Tag, Herr Prahl!

Thomas Prahl: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Wie sehr, Herr Prahl, liegt denn die Forschung in Russland wirklich am Boden?

Prahl: Sie liegt in der Tat am Boden, insofern, dass sie schon in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion, auch heute in Russland, vielfach nur das gefördert wird, was einer militärisch-strategischen Rolle untergeordnet werden kann, sprich also oftmals Naturwissenschaft, Technikwissenschaften - Geisteswissenschaften unterliegen faktisch keiner Förderung im Augenblick -, und die gerade um sich greifende Krise in Russland hat das natürlich nochmals verschärft.

Pokatzky: Das heißt also, der Absturz vom Kommunismus, diesem staatlich verordneten Wirtschaftssystem in den Kapitalismus, der ist nicht die einzige Ursache, sondern das war auch schon in der letzten Phase der Sowjetunion so?

Prahl: Ja, das war so - wobei wir natürlich uns nichts vormachen sollen. Der Versuch, den Staatssozialismus in einen Staatskapitalismus umzuformieren, zu reformieren, hält nach wie vor an. Wir sind noch lange nicht in der freien Marktwirtschaft in der russischen Förderation, von der wir vielleicht annehmen, dass es sie bereits gibt.

Pokatzky: Wenn Sie sagen, dass das im Wesentlichen nach wie vor in militärische Zwecke oder vor allem militärisch einsetzbaren Hintergrund verwendet wird, wenn es um Forschungsgelder geht, ist das nicht letztlich sehr töricht, braucht nicht eine Wirtschaftsnation auch eine kluge Grundlagenforschung, ganz grundsätzlich?

Prahl: Ganz grundsätzlich stimme ich Ihnen vollkommen zu, nur es geht im Augenblick an der Mentalität und an dem politischen Verständnis der russischen Führung wie auch der sowjetischen Führung seinerzeit völlig vorbei. Eine starke Militärmacht, eine Supermacht, wie man ja zu Zeiten der Sowjetunion sich sah im Vergleich auch zu den Vereinigten Staaten, braucht in erster Linie eine starke Armee. Und alle Bedürfnisse, die eine Armee braucht, kommen aus der Wissenschaft, und dann gibt es ein paar Abfallprodukte, die dann auch in den zivilen Sektor hineinreichen. Das hat sich leider bis heute nicht geändert.

Und wie gesagt, wenn Sie mal auf die Unterzeichner dieses Briefes schauen - das waren ja zu Anfang 40 Wissenschaftler, führende Wissenschaftler, die kamen ja aus den besten Universitäten der Welt, aus Oxford, aus Cambridge, aus Yale, aus Harvard und so weiter, auch übrigens sieben Kollegen, die an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen sind -, so muss man natürlich sagen, dass die fast alle aus den Hardcore-Fächern kommen: Physiker, Chemiker, Mathematiker, IT-Techniker - Sie finden kaum einen Geisteswissenschaftler.

Das ist natürlich auch wieder bezeichnend, dass auch in der heutigen russischen Föderation genau wie in den letzten Jahren der Sowjetunion die führenden Denker im Bereich der Wissenschaft eben aus diesen Fachgebieten kommen und nicht Philosophen, Soziologen, Geschichtswissenschaftler an das Gewissen der Regierenden und der Bevölkerung appellieren. Es sind Physiker, Chemiker, Biologen.

Pokatzky: Ich spreche mit Thomas Prahl, dem Leiter des Referats Mittelosteuropa beim Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD über die bedauernswerte Lage der Forschung in Russland. Herr Prahl, Sie haben jahrelang in Russland gelebt und gearbeitet, zuletzt waren Sie von 2004 bis vor wenigen Monaten Leiter der DAAD-Außenstelle Moskau.

Prahl: Ja.

Pokatzky: Wenn Sie da auf russische Wissenschaftler gestoßen sind bei irgendwelchen Veranstaltungen, wie groß war denn deren Lust und Neigung, ins Ausland abzuwandern?

Prahl: Man muss vielleicht unterscheiden: In den sehr komplizierten 90er-Jahren, Anfang 90 bis 95/96, war die Frage des Überlebens oftmals, bestand darin, dass man einfach ins Ausland ging, weil man weder finanziell noch materiell noch ideell eine Möglichkeit hatte, sich in Russland an den Universitäten, an den Forschungsinstituten, der Akademie der Wissenschaften irgendwie auch nur weiterzuentwickeln. Es fehlte an allem.

Das hat sich dann mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin etwas geändert. Putin hat sehr wohl verstanden, dass ein Riesenland wie Russland ohne Wissenschaft überhaupt keine Chance hat. Die Jüngeren haben ja so ein bisschen was wie Morgenluft geschnuppert, sie hatten auch eine große Hoffnung, dass mit dem Regierungswechsel von Putin zu Medwedew etwas mehr Freiheit wieder in die wissenschaftliche Landschaft kommt.

Ich glaube, das ist nicht eingetreten, im Gegenteil, es gibt verschiedene Tendenzen im Augenblick, die es den jungen Leuten sehr, sehr schwer machen, eine vernünftige Arbeit in Russland zu finden, zumal der Staat schon wieder reglementierend eingreift, indem man eben den jungen Leuten nahelegt, nicht zu lange ins Ausland zu gehen, sich nicht nur auf die westlichen Grands und Stipendien zu stürzen, sondern eben auch das nationale, um nicht zu sagen teilweise nationalistische Element zu betonen, dass ein Russe eben in Russland forschen muss.

Und wenn Sie mal in diesen Brief genau hinsehen, dann ist eine der Forderungen der Wissenschaftler ja auch gerade die Internationalisierung dieses Prozesses: Man soll führende ausländische Wissenschaftler nach Russland einladen, ihnen die Chance geben, mit russischen Kollegen in Russland zu arbeiten und zu forschen und damit auch sozusagen das Know-how wieder zurückzuholen nach Russland und sich auf diese Art und Weise wieder an die Weltspitze heranzutasten.

Pokatzky: Wie weit entspricht denn die russische Forschung heute überhaupt noch internationalen Qualitätsstandards, die dann ja wichtig wären für eine solche internationale Kooperation?

Prahl: In vielen Fällen versucht man in Russland, diesen Standards überhaupt aus dem Wege zu gehen, indem man eigene kreiert, die natürlich auf einem sehr viel niederen Niveau sich widerspiegeln, als wir das vom Weltniveau her kennen. Damit streut man sich natürlich auch selber Sand ein bisschen in die Augen, indem man vertuscht, dass man in vielen, vielen Disziplinen schon weit, weit hinter dem Weltniveau zurück ist.

Es gibt einige, wo man nach wie vor mit in der obersten Liga spielt, dazu gehört sicherlich die theoretische Physik, dazu gehört die Mathematik, dazu gehört sicherlich auch die Astrophysik, alles, was mit der Kosmosforschung zusammenhängt. Nicht umsonst ist ja auch in der internationalen ISS-Station da oben Russland immer noch stark vertreten. Teile der Biologie, Teile der Chemie gehören sicherlich mit zu den führenden in der Welt, aber insgesamt gesehen auch die viel gelobte Naturwissenschaft/Technik ist in Russland im Augenblick Unterweltniveau.

Pokatzky: Jetzt hat aber Präsident Medwedew doch immerhin auf diesen offenen Brief reagiert. Das Ganze hat auch übrigens sehr ausführlich verbreitet die staatliche Nachrichtenagentur "Novosti". Medwedew hat erklärt, man werde die Vorschläge prüfen. Ist das nicht dann doch irgendwie ein gelinder Fortschritt im Vergleich zu der alten Ära unter Putin? Wenn wir jetzt mal in die Zukunft blicken, könnten da leise Hoffnungskeime auftauchen?

Prahl: Das würde ich auch so sehen, wobei ich natürlich jetzt keine Widersprüche zwischen Putin und Medwedew konstruieren würde. Die beiden sitzen beide in einem Boot und fahren in die gleiche Richtung, wobei Herr Medwedew natürlich etwas geschickter und etwas aufgeschlossener einigen Problemen gegenübersteht.

Es ist eine Frage, warum Medwedew darauf aus ist, die ist eigentlich relativ einfach: Die Wissenschaft hat in der Sowjetunion und in der russischen Förderation über Jahrzehnte immer einen großen und guten Stand in der Gesellschaft gehabt. Man war stolz darauf, Wissenschaftler zu sein, diese Weißen-Kittel-Berufe waren angesehen, man stellte was in der Welt dar. Und viele, viele normale russische Staatsbürger haben sich mit ihrer Wissenschaft, mit ihren Wissenschaftlern identifiziert und waren stolz darauf.

Dieses Gefühl ist in den letzten 10, 15 Jahren fast vollständig verloren gegangen. Man ist heute nicht mehr und gehört zu den Top Ten, wenn man Wissenschaftler ist, man ist nicht mehr in der Gesellschaft besonders geachtet, nur weil man den Staatspreis oder vielleicht auch den Nobelpreis bekommt. Das sind also Tendenzen, die im Augenblick dazu führen, dass natürlich die Staatsmacht - und dazu gehört natürlich an erster Stelle der Präsident und der Premierminister - sehr aufmerksam verfolgen müssen, dass diese ernsten Worte der führenden Wissenschaftler aus vielen Ländern der Welt auch die gebührende Achtung finden. Und wenn das im staatlichen Rundfunk, in der staatlichen Presse erscheint, dann unter anderem auch deshalb, weil Herr Putin und Herr Medwedew das so wollen - ansonsten wäre es nicht passiert.

Pokatzky: Glauben Sie denn, dass die ja jetzt inzwischen gut 150 Wissenschaftler, Spitzenwissenschaftler, die in den Westen gegangen sind aus Russland und die den Brief inzwischen unterzeichnet haben, glauben Sie denn, dass die damit einen Erfolg haben werden, vielleicht sogar einen solchen Erfolg, dass einige von ihnen demnächst in ihre Heimat Russland zurückkehren werden?

Prahl: Ich hoffe, dass sie einen Erfolg haben werden, aber ich glaube nicht, dass eine größere Anzahl der Unterzeichner zurückkehren wird. Es gibt ja seit einigen Jahren eine sogenannte Putin-Initiative der Rückgewinnung von russischen, im Ausland tätigen Wissenschaftlern, um sie in die russische Föderation zurückzuholen und sie wieder in die Forschung dort einzubinden.

Die Leute kommen nicht zurück, weil sie Angst haben, dass sie zu wenig verdienen oder dass die Bedingungen nicht so sind, wie sie vielleicht in Amerika, Frankreich, Deutschland oder England sie vorfinden - sie kommen nicht zurück, weil sie im Augenblick wissen, dass das System es ihnen nicht erlaubt, eine freie Forschung zu betreiben. Sie würden wieder eingebunden in eine Struktur der Akademie der Wissenschaften, wo eben 80-, 90-jährige Leitungskader - muss man ja nun schon wieder sagen - bestimmen, was der einzelne Wissenschaftler tun und was er lassen muss.