Abstraktionsmeister Natur
Das künstlerische Lebenswerk des Schweizer Mediziners und Naturwissenschaftlers Hermann Obrist stellt einen der wichtigsten Beiträge zur Ästhetik um 1900 dar. Die Pinakothek der Moderne in München zeigt nun erstmals das Gesamtwerk des Zeichners, Bildhauers und Theoretikers. In der Verknüpfung von Bild und Wissenschaft soll die Schau auch die Aktualität von Obrists Werk darstellen.
Einst sah das Kind eine schwebende Stadt vor sich, mit brunnenbekränzten Plätzen und märchenhaft schönen Räumen. Noch als erwachsener Mann, um 1900, hat Hermann Obrist diese Visionen. Zum Arzt geht er deshalb nicht, der gebürtige Schweizer hat selbst Medizin studiert, war Naturwissenschaftler, bevor er sich als Autodidakt der Kunst widmete. Organisch wucherndes Grün, steil aufragende Kristalle und verlockend schimmernde Grotten sind seine Motive, die hat er vor und von der Natur abgeschaut: "Pilzige Erde", "Dornen und Blüten bewachsen Felszacken" oder "Gefiederte Borke" sind Zeichnungen betitelt, mit denen Kurator Andreas Strobl in München zur Wiederentdeckung von Hermann Obrist einlädt:
"Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er 1896 mit einer Ausstellung von Stickereien, die eingeschlagen hat wie eine Bombe. Und er war sozusagen von null auf hundert eine feste Größe in der europäischen Avantgardekunst-Szene des Jugendstils oder Art nouveau."
Obrists sogenannter "Peitschenhieb", ein Wandbehang mit schlichtem Alpenveilchen, dargestellt in geradezu atemberaubender Linienführung, gilt als Geburtsurkunde des Jugendstils. Das fragile, verblichene Original hütet das Münchner Stadtmuseum wie einen Augapfel, deshalb musste die Pinakothek mit einem "Blütenbaum" vorlieb nehmen, einer bislang unbekannten Arbeit. Ein Glücksgriff, denn oft verstellen ja die allbekannten "Ikonen" den Blick: Hier nun sieht man silbrige Blüten, die auf mauvefarbener Fläche zwischen streng symmetrischem Blattwerk und labyrinthisch gewundenen Sprossen glitzern - eine Kombination, die so in der Natur kaum vorkommen dürfte. Hier also zeigt sich bereits die künstlerische Vision des Hermann Obrist.
Strobl: "Die Stickerei ist eben faszinierend, insofern sie dann bei diesem Blütenbaum diese Mischung von genauer Naturbeobachtung und der Stilisierung dieser Naturbeobachtung sehen können."
Es ist eben diese Mischung, der anfangs unmerkliche, aber sehr bedachte Übergang von gegenständlichen Motiven zu abstrakten Strukturen, mit der sich Obrist von Kunsthandwerk und Kunstgewerbe absetzt.
Strobl: "Kein Jugendstil, wie ihn andere seiner Zeitgenossen betrieben haben. Die suchten nach einem Ornament, einer Wiederholung. Sondern es sind immer Blumenindividuen, sozusagen, die er darstellt. Er hat nie daran gedacht, obwohl er dieses Stickereiatelier mit italienischen Stickerinnen nach München gebracht hat, diese Dinge nun etwa in einer Auflage herzustellen. Für ihn war das dieses eine Bild, dieses Kissen oder dieser Wandbehang - und damit fertig."
Obrists Augenmerk gilt der Variation, der Entwicklung, einem work in progress: Immer energischer betont er die Konturen, bringt Bewegung in die Linien. Mit einer Dynamik, die aus der Fläche heraus in den Raum drängt. Das kreiselt und wogt, schäumt und spritzt. In einigen Möbeln wird das sichtbar, auch in einem Salzstreuer, den ein Sammler auf dem Flohmarkt gefunden hat, der jetzt als Kostbarkeit in einer Glasvitrine ruht. Vor allem aber sieht Kurator Andreas Strobl zahlreiche übers Land verstreute Grabmale von Hermann Obrist als Wegmarken dieser Künstlerbiographie. Viele davon sind noch zu entdecken.
Im Museum verlieren sich einige Fotobeispiele auf einer Landkarte, immerhin aber gibt es daneben ein halbes Dutzend mannshohe Gipsmodelle zu sehen: Blütenkelche, phantastische Turmgebilde oder überwucherte Säulen. Jetzt kommen historische Fotofunde hinzu oder die bislang kaum beachteten Entwurfszeichnungen, damit wird Obrist endlich zur Herausforderung für Kunsthistoriker. Zeit für eine Rechercheübung am ausgestellten Objekt:
"Das rechte könnte ein Modell sein für eine der Frauenfiguren an dem Grabmal von Faber. Das ist definitiv 1908 aufgestellt, zu einem Zeitpunkt, wo auf der anderen Seite Skulpturen in Vorbereitung sind, die Brunnenmodelle, und wenig später Skulpturen entstehen wie die "Bewegung" oder dieses kapitellartige Gebilde. Also: Gegenständlich und abstrakt ist offensichtlich bei Obrist kein Gegensatz."
Während also noch ganz konventionelle Büsten seine Werkstatt verließen, hatte Obrist bereits avantgardistische Plastiken wie "Bewegung" für das Werkbundtheater von Henry van de Velde in Arbeit. Aber schon legt Kurator Andreas Strobl mit einer unscheinbaren Broschüre eine neue Spur: die Ankündigung einer Architektur-Ausstellung des Berliner "Arbeitsrates für Kunst", einem Avantgarde-Zirkel, in den Obrist 1919 eingeladen wird - von einer ganz neuen, sehr viel jüngere Generation.
Andreas Strobl: "Obwohl er mit den Vorstellungen der deutschen Revolution und des Arbeitsrates und einer sozialistischen Kunst überhaupt nichts anfangen konnte, trotzdem ist er eingeladen worden - und sie haben offensichtlich gemerkt: das ist nicht mehr dieser Jugendstil, der eigentlich passé ist, sondern das ist etwas, das im Grunde genommen schon in unsere Richtung gegangen ist, eben den Weg in der Skulptur, zu mindestens in Deutschland, in die Abstraktion."
"Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er 1896 mit einer Ausstellung von Stickereien, die eingeschlagen hat wie eine Bombe. Und er war sozusagen von null auf hundert eine feste Größe in der europäischen Avantgardekunst-Szene des Jugendstils oder Art nouveau."
Obrists sogenannter "Peitschenhieb", ein Wandbehang mit schlichtem Alpenveilchen, dargestellt in geradezu atemberaubender Linienführung, gilt als Geburtsurkunde des Jugendstils. Das fragile, verblichene Original hütet das Münchner Stadtmuseum wie einen Augapfel, deshalb musste die Pinakothek mit einem "Blütenbaum" vorlieb nehmen, einer bislang unbekannten Arbeit. Ein Glücksgriff, denn oft verstellen ja die allbekannten "Ikonen" den Blick: Hier nun sieht man silbrige Blüten, die auf mauvefarbener Fläche zwischen streng symmetrischem Blattwerk und labyrinthisch gewundenen Sprossen glitzern - eine Kombination, die so in der Natur kaum vorkommen dürfte. Hier also zeigt sich bereits die künstlerische Vision des Hermann Obrist.
Strobl: "Die Stickerei ist eben faszinierend, insofern sie dann bei diesem Blütenbaum diese Mischung von genauer Naturbeobachtung und der Stilisierung dieser Naturbeobachtung sehen können."
Es ist eben diese Mischung, der anfangs unmerkliche, aber sehr bedachte Übergang von gegenständlichen Motiven zu abstrakten Strukturen, mit der sich Obrist von Kunsthandwerk und Kunstgewerbe absetzt.
Strobl: "Kein Jugendstil, wie ihn andere seiner Zeitgenossen betrieben haben. Die suchten nach einem Ornament, einer Wiederholung. Sondern es sind immer Blumenindividuen, sozusagen, die er darstellt. Er hat nie daran gedacht, obwohl er dieses Stickereiatelier mit italienischen Stickerinnen nach München gebracht hat, diese Dinge nun etwa in einer Auflage herzustellen. Für ihn war das dieses eine Bild, dieses Kissen oder dieser Wandbehang - und damit fertig."
Obrists Augenmerk gilt der Variation, der Entwicklung, einem work in progress: Immer energischer betont er die Konturen, bringt Bewegung in die Linien. Mit einer Dynamik, die aus der Fläche heraus in den Raum drängt. Das kreiselt und wogt, schäumt und spritzt. In einigen Möbeln wird das sichtbar, auch in einem Salzstreuer, den ein Sammler auf dem Flohmarkt gefunden hat, der jetzt als Kostbarkeit in einer Glasvitrine ruht. Vor allem aber sieht Kurator Andreas Strobl zahlreiche übers Land verstreute Grabmale von Hermann Obrist als Wegmarken dieser Künstlerbiographie. Viele davon sind noch zu entdecken.
Im Museum verlieren sich einige Fotobeispiele auf einer Landkarte, immerhin aber gibt es daneben ein halbes Dutzend mannshohe Gipsmodelle zu sehen: Blütenkelche, phantastische Turmgebilde oder überwucherte Säulen. Jetzt kommen historische Fotofunde hinzu oder die bislang kaum beachteten Entwurfszeichnungen, damit wird Obrist endlich zur Herausforderung für Kunsthistoriker. Zeit für eine Rechercheübung am ausgestellten Objekt:
"Das rechte könnte ein Modell sein für eine der Frauenfiguren an dem Grabmal von Faber. Das ist definitiv 1908 aufgestellt, zu einem Zeitpunkt, wo auf der anderen Seite Skulpturen in Vorbereitung sind, die Brunnenmodelle, und wenig später Skulpturen entstehen wie die "Bewegung" oder dieses kapitellartige Gebilde. Also: Gegenständlich und abstrakt ist offensichtlich bei Obrist kein Gegensatz."
Während also noch ganz konventionelle Büsten seine Werkstatt verließen, hatte Obrist bereits avantgardistische Plastiken wie "Bewegung" für das Werkbundtheater von Henry van de Velde in Arbeit. Aber schon legt Kurator Andreas Strobl mit einer unscheinbaren Broschüre eine neue Spur: die Ankündigung einer Architektur-Ausstellung des Berliner "Arbeitsrates für Kunst", einem Avantgarde-Zirkel, in den Obrist 1919 eingeladen wird - von einer ganz neuen, sehr viel jüngere Generation.
Andreas Strobl: "Obwohl er mit den Vorstellungen der deutschen Revolution und des Arbeitsrates und einer sozialistischen Kunst überhaupt nichts anfangen konnte, trotzdem ist er eingeladen worden - und sie haben offensichtlich gemerkt: das ist nicht mehr dieser Jugendstil, der eigentlich passé ist, sondern das ist etwas, das im Grunde genommen schon in unsere Richtung gegangen ist, eben den Weg in der Skulptur, zu mindestens in Deutschland, in die Abstraktion."