Abstand wegen Corona

Wie uns fehlender Körperkontakt verändert

07:11 Minuten
Eine junge Frau und ein junger Mann umarmen sich.
Innige Umarmungen sind für viele Menschen seit Wochen seltener geworden - für manche auch unmöglich. © Unsplash / Priscilla Du Preez
Von Annegret Faber · 11.06.2020
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In der Coronapandemie ist Abstandhalten weiter oberstes Gebot. Engen Kontakt, Umarmungen oder körperliche Nähe gilt es zu vermeiden. Dabei sind Berührungen für Menschen überlebenswichtig. Auf sie zu verzichten, hat Folgen.
"Nun bin ich schon so alt und fühle mich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben allein", sagte mein 86-jähriger Vater vor kurzem zu mir am Telefon. Seit vielen Jahren lebt er alleine, hat das aber nie als nachteilig empfunden. Ein paar Tage nach diesem Telefonat besuche ich ihn und möchte mit ihm darüber sprechen. Doch er wiegelt ab: "Eine gewisse Einsamkeit bin ich mein Leben lang gewöhnt." Zu Hause fühle er sich doch am wohlsten.
Vielleicht möchte er seine Gefühle vor dem Mikrofon nicht mehr preisgeben? Und die fehlenden Umarmungen in den letzten Wochen? Keine aufregende Sache, sagt er. An die Coronapandemie werde er nur beim Einkaufen erinnert.
Als er vor einigen Tagen in einen Supermarkt wollte, durfte er das Geschäft nicht betreten. "Weil ich keinen Mundschutz hatte." Mein Vater ist seit weit über zehn Jahren solo. Körperliche Nähe, kuscheln, jemanden in den Arm nehmen, das alles war noch nie seine Sache.

Leiden Jüngere wegen Kontaktbeschränkungen stärker?

Der Haptik-Forscher Martin Grundwald kann sich vorstellen, dass solchen Menschen die Kontaktbeschränkungen der letzten Monate relativ wenig ausmachten: "Zumindest wäre das meine Vermutung, dass ältere Menschen sich stärker an die geringeren sozialkommunikativen Kontakte gewöhnt haben."
Jüngere hatten nicht mehrere Jahrzehnte Zeit, um sich allmählich an immer weniger Berührungen zu gewöhnen. Doch in der Coronapandemie kam das quasi über Nacht: Eine partnersuchende, zukunftshungrige Generation sei quasi auf "Kontakt Null gesetzt" worden, so Grunwald. Er vermutet, dass deshalb junge Menschen schlechter mit den Kontaktbeschränkungen zurechtkämen.
Maria ist dafür ein Beispiel. Sie ist 32, Single und Mutter einer kleinen Tochter. Von Mitte März bis Ostern habe sie kaum Kontakt zu Freunden gehabt. "Was für mich ganz wichtig war, dass ich weiterhin den Körperkontakt, die Umarmungen zu meiner Tochter hatte". Berührungen, die ihr in den vergangenen Monaten sehr geholfen hätten.
Dennoch: Streicheleinheiten mit ihren Freunden vermisse sie. "Gerade dieser Willkommensmoment, wenn man sich trifft, fehlt mir sehr", so die 32-Jährige. Es liege einfach in den Menschen, dass "wir uns fühlen und berühren wollen". Die bloße Sprache reicht ihrer Meinung nach nicht aus.

Tastsinn löst Feuerwerk an Emotionen aus

Die Kontaktbeschränkungen verhindern, dass sich das Coronavirus ausbreitet. Aus Sicht von Virologen eine verständliche Forderung, sagt Haptik-Forscher Martin Grunwald. Doch der Preis sei hoch. Für ihn ist Körperkontakt, sprich, der Tastsinn, ein "Lebensmittel", schreibt er in seinem Buch "Homo Haptikus". Leider werde dieser Sinn kontinuierlich nichtbeachtet und abgewertet: "Das Tastsinnessystem wird an den Universitäten nicht richtig gelehrt und an der Schule schon gar nicht." Insofern gebe es da einiges an Nachholbedarf.
Der Tastsinn bilde sich vor allen anderen Sinnen schon ab der siebten Schwangerschaftswoche aus. Bis zu 900 Millionen Rezeptoren sorgen dafür, dass Menschen Berührungen wahrnehmen können. Seh- und Geruchssinn benötigen nur ein Zehntel und der Geschmackssinn sogar nur 20.000 Rezeptoren. Für die Entwicklung des Menschen sei die Stimulation des Tastsinnsystems essentiell, denn es löse ein Feuerwerk an Emotionen und Gefühlen aus.
"Wenn Sie unter einem eklatanten Körperberührungsmangel über Wochen oder Monate leiden, dann können sich depressive Symptome einstellen", so der Haptik-Forscher. Möglich seien je nach Veranlagung auch Angststörungen. Ebenen, die man nicht unterschätzen dürfe.

Fehlende Berührung kann depressiv machen

Welche Folgen das Fehlen von Berührungen haben kann, erlebte Maria bei ihrer Mutter: Sie bekam eine Angststörung, während der Coronazeit. Für die Tochter eine schwierige Situation: "Ich würde sie so gerne einmal in den Arm nehmen und glaube, sie braucht das viel mehr als Hygienemaßnahmen, um halbwegs durch ihren Alltag zu kommen."
Sowohl die Berührung von anderen Menschen, als auch die Selbstberührung sei sehr wichtig, sagt Haptik-Forscher Martin Grunwald und kommt auf die Forderung zu sprechen, sich aus hygienischen Gründen nicht mehr ins Gesicht zu fassen. Das sei faktisch für die Spezies Mensch nicht machbar. Es erhöhe den Stresslevel und so werde das Bedürfnis immer größer, sich selbst ins Gesicht zu fassen.
Studien zeigen, dass wir uns täglich 400 bis 800 Mal selbst berühren. Schon der Fötus im Bauch tut das.

Sich selbst ins Gesicht fassen, ist beruhigend

Forscher gehen davon aus, dass diese unbewussten Berührungen beruhigen und den Körper in Stresssituationen ins Gleichgewicht bringen. Menschen fassen sich dabei vor allem an Mund und Nase. Genau das ist in Zeiten von Covid-19 problematisch, aber es sei nicht zu ändern, sagt Grunwald.
Er beschreibt Berührung auch als eine Art Versicherungs-Sinnessystem. Es sagt uns: Ich bin noch da, der andere ist auch noch da. "Wenn das wegfällt, ist das unter Umständen für unser neuronales System eine Mangelinformation, die wir schlecht ertragen können", so Grunwald. Und die Folgen können krank machen.
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