Abseits des Streamings

Warum wir Filmotheken weiterhin brauchen

Eine Mitarbeiterin einer Videothek sortiert Filme in die Regale ein.
Eine Mitarbeiterin einer Videothek sortiert Filme in die Regale ein. © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Christian Berndt · 21.06.2016
Die Filmothek "Filmgalerie Berlin" wirbt auf ihrer Homepage mit einer ganz besonderen Liste: selten ausgeliehene Titel. In Zeiten des Streamings ist dies eine Metapher für das Schicksal der Videotheken - sie könnten bald verschwunden sein.
"Rote Lola, einer der ersten Filme, die eine gelogene Rückblende hatten. – Ja, genau. – Das war damals ein Schock. – Hitchcock hat gelogen."
Ein Kundengespräch in der Videothek Filmgalerie in Berlin. Dieser Gedankenaustausch ist für Inhaber Silvio Neubauer wichtig, seit 1987 verleiht der ehemalige Architekt Filme. Die Kunden schätzen die Atmosphäre in der Programm-Videothek. Hier treffen sich Filminteressierte und Fachpublikum, wie Regisseurin Verena Freytag, die oft und gerne hierherkommt: "Weil die meisten Filme, die ich gucken will, online nicht erhältlich sind, und weil ich auch gerne spazieren gehe abends, und weil es hier auch immer nett ist, sich zu unterhalten und sich Tipps zu geben."
Eine Besonderheit der Filmgalerie ist die Liste der selten ausgeliehenen Filme: Auf Platz 1 steht "Oliver’s Story" von 1978, die Fortsetzung des Schmachtfetzens "Love Story", einem der größten Kinoerfolge aller Zeiten. "Oliver‘s Story" dagegen floppte im Kino, trotzdem ist die Liste keine Ansammlung gescheiterter Filme, im Gegenteil. Darunter sind Kunstwerke wie "Borderline" von 1930 – ein atemberaubend modernes Dreiecksdrama zwischen Weißen und Schwarzen. In gewisser Weise ist es eine Ehrenliste vergessener Filme. Obwohl die Filmgalerie vor einigen Jahren an einen kleineren Standort umziehen musste, wird kein Film aussortiert:
"Wir bezeichnen uns ja selbst als Archiv. Da wurden auch Sachen gesammelt, wo man sagt: 'Die sind ja ganz schlecht.' Da sag ich: 'Na und? Wenn jemand meint, er müsste aus irgendwelchen Gründen auch immer aus den Siebzigerjahren Lederhosenfilme anschauen.' Oder wie eine Autorin, die sich mit den Siebzigerjahren befasst hat. Die hat sich dann alle möglichen der wüstesten Produktionen aus Deutschland bei uns ausgeliehen, weil sie sich ein Bild davon machen wollte, von dem, was damals Menschen zu Millionen gesehen haben. Das ist ein Teil der Gesellschaft und der Kultur."

Das Schattendasein der Filmhistorie

Auf der Liste der selten ausgeliehenen Filme findet man filmhistorische Werke, die sonst nicht mehr zu haben sind, und Überraschungen, wie die amerikanische Komödie "The Wild Life" von 1984. Hier treffen erstaunliche Freizügigkeit, jugendliche Verweigerungshaltung und soziale Problematiken in einer Weise aufeinander, wie es heute im Hollywood-High-School-Film undenkbar wäre. Wie den vergessenen Filmen könnte es bald den Videotheken ergehen – dass sich niemand mehr für sie interessiert. 1980 begann der Boom des Videoverleihs, vor knapp 10 Jahren setzte mit den Online-Stream-Angeboten ein dramatischer Niedergang ein. Von bundesweit über 4000 Videotheken im Jahr 2007 sind heute noch etwas über 1000 übrig. Wobei man in der Branche das illegale Streamen als Problem sieht, nicht die legalen Anbieter:
"In einigen Bereichen sind sie sehr stark, eben in diesen Eigenproduktionen und Serien. Aber das Gesamtprogramm ist erstaunlich gering. Wir haben hier 25000 Titel, wenn man die Titel aller Streams zusammennimmt, dann sind das 5, 6, 7 Tausend vielleicht, also ein Bruchteil."
So sieht das auch Martin Schuffenhauer von der Filmkunstbar Fitzcarraldo in Berlin-Kreuzberg:
"Wenn man mal die üblichen Verdächtigen im Internet, also die legalen Anbieter wie Amazon Prime oder Netflix durchprobiert, dann merkt man zu allererst, dass die nur Scheiße zum Verleihen haben. Und die Videotheken sind nach wie vor die einzigen, die überhaupt eine gute Auswahl bereitstellen, und was wir außerdem noch können, ist Beratung. Ich bin ja kein Algorithmus, mich gibt es in echt."

Die Alternative zum Bestellalgorithmus

Schuffenhauer glaubt, dass spezialisierte Videotheken überleben werden. Das Fitzcarraldo zum Beispiel ist kombinierte Bar-Videothek, und das Internet sieht er als Ergänzung. Auf der Videothek-Website gibt es redaktionell erarbeitete Filminfos und Links:
"Damit man sich auch noch mal eine eigene Meinung bilden kann, verlinke ich halt mit Youtube, entweder zum Trailer oder zum ganzen Film, dann kann man auch reingucken. Wer es in der richtigen Qualität sehen will, der kann ihn ja auf DVD leihen, aber niemand hat so viel Geld, um sich alles anzuschauen. Und von daher finde ich das sinnvoll."
Dennoch ist das Geschäftsmodell der Programm-Videotheken gefährdet, letztes Jahr schloss in Berlin das Negativeland. Noch sind einige anspruchsvolle Läden übrig, neben den genannten auch das legendäre Videodrom. Aber wie lange wird es diese Orte noch geben?
"In 20 Jahren zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, dass es in der Form noch existiert. Das dann in einem musealen oder anderen Kontext, das würde ich sehr hoffen."
Ironischerweise könnte also ausgerechnet die Liste der selten ausgeliehenen Filme dafür sorgen, dass die Videotheken ihre Funktion als Filmarchiv behalten – weil sie nicht ins Relevanzschema von Online-Anbietern passen und über Filme verfügen, die in den Weiten des Internets nicht aufzutreiben sind.
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