Abseitiges und Überraschendes

13.09.2010
"Ein ewiger Traum" verrät viel über Vorlieben und Abneigungen des großen argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. Der Essayband bietet einen unterhaltsamen Querschnitt der Gedankenwelt des Autors.
Der Träumer Frank Kafka, der seine Träume eigentlich nie preisgeben wollte, sei inzwischen Teil unseres universalen Traums, schreibt Jorge Luis Borges in einem Essay von 1983. Dieser universale Traum ist nämlich nichts anderes als unser Gedächtnis. Um die weit gefächerten Bestandteile seines eigenen Gedächtnisses kreist der neue Aufsatzband "Ein ewiger Traum".

Man stößt auf Abseitiges und Überraschendes, erfährt viel über die literarischen Vorlieben des großen argentinischen Schriftstellers, liest seine scharfen Verurteilungen der nationalsozialistischen Politik von 1939 und 1941, die sich gegen sympathisierende Strömungen in seinem eigenen Land richteten, kann an der Auseinandersetzung mit Nietzsche teilhaben oder eine Analyse des letzten Kapitels des "Don Quichotte" studieren. Entstanden sind die Texte, die zum Teil erstmals auf Deutsch erscheinen und einen aufschlussreichen Querschnitt durch seine essayistischen Aktivitäten bieten, zwischen 1922 und 1970.

Literatur ist für Borges (1899-1986) nichts Statisches, sondern ein intellektueller Prozess, der literarische und philosophische Gedanken beständig aufnimmt und verwandelt. "Ich bin immer erst nach den Büchern zu den Dingen gelangt", erklärt Borges in einem autobiografischen Abriss, der den Band abschließt und sich wie eine Einführung ins Gesamtwerk liest. Aufgewachsen in einer kosmopolitischen Familie mit europäischen Wurzeln, in der, um der englischen Großmutter willen, immer Englisch und Spanisch gesprochen wurde, ist die Bibliothek der wichtigste Ort im Elternhaus.

Eigentlich habe er diese Bibliothek zeit seines Lebens nicht verlassen, meint Borges. Schon seine Großmutter war eine große Leserin, die bis zu ihrem Lebensende an den neuesten Entwicklungen teilhatte. Diese Vorliebe vererbte sie ihrem Sohn, Borges’ Vater, einem Rechtsanwalt und Verehrer von Shelley, Keats und Swinburne, der in seiner Freizeit mehrere Romane und Sonette verfasste.

Schon mit neun Jahren veröffentlichte Jorge Luis Borges eine Übersetzung von Wildes "The Happy Prince" in einer Tageszeitung von Buenos Aires. Allerdings nahmen die Redakteure an, sie stamme von seinem Vater. Der eigenen literarischen Produktion, die während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Europa zwischen 1914 und 1921 einsetzte, steht Borges mit herablassender Ironie und britischem Understatement gegenüber. Seine Reifejahre verbrachte er zunächst als Mitarbeiter einer öffentlichen Bücherei, bis er unter Präsident Perón seine Anstellung verlor und als Literaturdozent ganz Lateinamerika bereiste.

Nach dem Ende der Diktatur wurde der inzwischen zu Weltruhm gelangte, allmählich erblindende Autor zum Direktor der Nationalbibliothek ernannt und damit zum Hüter einer Fülle von Büchern, die er nicht mehr lesen konnte. Dies sei "Gottes glänzende Ironie", und von nun an entstanden gut memorierbare Gedichte in klassischem Versmaß. "Ich wusste, dass das Abenteuer für mich persönlich endlos sein würde", beschreibt Borges seine Entdeckung der altenglischen Literatur als junger Universitätslehrer. Ähnlich endlos gestaltet sich für uns die Entdeckung des borges'schen Kosmos.

Auch wenn seine Witwe María Kodama eine kritische Werkausgabe bis heute nicht zulässt, gibt "Ein ewiger Traum" auf unterhaltsame Weise Auskunft über Borges’ intellektuelle Vielfalt und seine Arbeitsweise.

Besprochen von Maike Albath

Jorge Luis Borges: Ein ewiger Traum. Essays
Herausgegeben und aus dem Spanischen und Englischen übersetzt von Gisbert Haefs
Carl Hanser Verlag, München 2010
294 Seiten, 21,50 Euro

Das Buch steht auf der litprom-Bestenliste "Weltempfänger"