Abschied von der Aufklärung?

Von Alexander Schuller |
"Glauben heißt nix Wissen" sagt der Volksmund und zeigt sich damit als gutes Kind der Aufklärung. Dieser harmlose Satz hat eine böse Geschichte. Immerhin hieß sein prominentestes Opfer Galileo Galilei. Die Brisanz des nur scheinbar harmlosen Bekenntnisses wird nämlich erst in seiner Umkehr klar: "Wissen heißt nix Glauben." Damit sei - so dachten die Kritiker Galileis - dem Nihilismus Tür und Tor geöffnet. Und Recht hatten sie. Denn genau das verkündete der Philosoph Friedrich Nietzsche Jahrhunderte später.
Weniger wild, aber sehr viel mächtiger war die geistige Nachfolge Galileis, die moderne empirische Wissenschaft. Auch ihr Bekenntnis lautet: "Wissen heißt nix Glauben." Für sie ist nämlich jede Wahrheit nur vorläufig, nur so lange wahr, bis der Fortschritt der Wissenschaft eine neue und bessere Wahrheit zu Tage fördert - die dann ihrerseits das Opfer einer neueren Erkenntnis wird. Der zentrale Begriff dieses Denkens heißt: Hypothese. Hypothetisches Denken bedeutet vorläufiges, aber tabuloses Denken. Alles muss denkbar sein, denn gerade dort, wo bislang keiner zu denken und zu forschen wagte, liegt oft genug die neue - natürlich vorläufige - Wahrheit.

Nehmen wir ein harmloses Beispiel. Das billige und vermeintlich banale Silizium ist die Grundlage für die gesamte moderne Informations- und Kommunikationstechnologie. Seine scheinbar abwegige Entdeckung war ein revolutionärer Akt. Anders ausgedrückt: das Silizium, der Chip, das Handy, die Freiheit des Forschens, unser Wohlstand, die Meinungs- und Gedankenfreiheit, sie alle sind Teil eines notwendigen Zusammenhangs. Das Denken in Hypothesen ist der Kern dessen, was wir Gedankenfreiheit nennen. Wer diesen Zusammenhang bedroht, bedroht die Grundlagen unserer Gesellschaft. Der gefährdet unsere Freiheit und unseren Wohlstand.

Der Totalitarismus, als System des organisierten Denkverbots, ist dafür ein schrecklicher Beleg. Aber das ist alles bekannt und klar, das haben wir doch längst hinter uns, heißt es allenthalben. Denkverbote gibt es nicht, nicht mehr bei uns. Bei uns darf man alles denken, nur keine bösen, keine falschen Gedanken. Man darf alles denken, jedenfalls solange es politisch korrekt ist. Aber was ist das, politisch korrekt? Günter Grass war Mitglied der Waffen-SS, heute ist er ein leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Ist er jetzt oder war er damals politisch korrekt? Offenbar beides – je nach herrschender Lage. Und welcher Persönlichkeitstyp entspricht dem jeweils politisch korrekten System? Ist es der Konformist, oder gar der Opportunist, der Feigling, der Denunziant? Der Mensch mit dem gebrochenen Rückgrat, ist das der Held der westlichen Welt?
Es gibt immer wieder Anlass, über diese Frage nachzudenken und seit kurzem einen besonderen. Einer der genialsten Wissenschaftler unserer Zeit, der Entdecker der DNA, der Nobelpreisträger James Watson, ist Opfer einer Kampagne geworden. In einem Interview hatte er gesagt, dass es einen empirisch nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Ethnie gibt. Dabei ist Watson so verstanden worden, als handele es sich um seine persönliche Ansicht. Das ist in der Tat peinlich, aber eher für seine Kritiker als für ihn. Dass dieser Zusammenhang schon seit Jahrzehnten belegt ist, das erwähnte Watson nicht. Er unterstellte, dass jeder gebildete Zeitgenosse ausreichend belesen sei. Im Jahre 1994 erschien eine gewissermaßen abschließende Zusammenstellung aller entsprechenden Forschungsergebnisse, unter dem Titel "The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life", 845 Seiten, mit akribisch genauen Literaturbelegen. Die Autoren: Richard Herrnstein und Charles Murray. Der Verlag: The Free Press, einer der renommiertesten Wissenschaftsverlage der USA.

So wie heute wurde auch damals ganz offen argumentiert, dass die Wahrheit immer dann unterdrückt werden müsse, wenn sie den politischen Interessen der Herrschenden zuwiderlaufe. Auch damals wurden die Autoren der Studie beschimpft, allerdings wurden sie nicht verfolgt, wie jetzt Watson. Lässt sich aus dieser Verschärfung eine Tendenz erkennen? In Russland wird im Namen einer lupenreinen Demokratie der erschossen, der die Wahrheit sagt. Bei uns werden Nobelpreisträger aus dem Amt gejagt und man behauptet, damit unsere geistigen Werte zu schützen. Nehmen wir also ganz gezielt Abschied von der Aufklärung? Kehren wir zurück ins Mittelalter?


Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von "Paragrana" (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie "Merkur" und "Universitas".
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