Abschied vom Klassenkampf

Shi Ming im Gespräch mit Britta Bürger |
Die Losungen, die Deng Xiaoping 1978 auf dem Parteitag der chinesischen KP ausgab, klangen anders als die gewohnten Floskeln kommunistischer Führer. "Lasst zuerst einige reich werden", sagte der Staatschef und ebnete damit den Weg für Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltmacht. Nach Einschätzung des chinesischen Publizisten Shi Ming klangen Dengs Worte wie eine "große Verheißung".
Britta Bürger: 30 Jahre Reformpolitik in China. Auch wenn die Folgen der globalen Finanzkrise China derzeit besonders hart treffen, betont die kommunistische Führung dieser Tage stolz, wie richtig es war, das Land zu einer modernen Wirtschaftsmacht zu entwickeln. Zugleich wird der Ruf nach Demokratie immer lauter, zuletzt in der sogenannten "Charta 08". Mehr als 300 chinesische Intellektuelle habe zum Jahrestag der Menschenrechte im Internet einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie grundlegende demokratische Reformen einklagen. Doch erinnern wir uns zunächst daran, wie der erste große Modernisierungsschub das von Mao geprägte China ins Wanken gebracht hat. Der chinesische Publizist Shi Ming war damals 21 Jahre alt und er hat den Entwicklungsprozess seitdem aufmerksam verfolgt und journalistisch begleitet. In Köln bin ich jetzt telefonisch mit ihm verbunden. Schönen guten Morgen, Herr Shi!

Shi Ming: Guten Morgen!

Bürger: Welche Erinnerungen haben Sie an das China vor 30 Jahren? In welchem Zustand war das Land?

Shi Ming: Das Land war natürlich in einer nach außen sehr festgefahrenen Autarkie. Nach außen hieß es ja, China sei sehr stabil, China habe weder Schulden nach außen wie nach innen. China lebte damals zwar in Armut, es ist schon richtig, dass Chinas Wirtschaft am Abgrund gestanden hatte, in einem Chaos. Allerdings wussten die meisten Chinesen nichts von der Außenwelt, nichts von einem internationalen Vergleich in sogenannter "Rechtsgradskala". Insofern waren die meisten Chinesen auch in den Städten nicht gut informiert, wie schlecht sie dastanden.

Bürger: Und wie waren damals die Machtverhältnisse in der kommunistischen Partei? Einerseits die Anhänger von Maos Kulturrevolution, auf der anderen Seite doch reformbereite Menschen?

Shi Ming: Die reformbereiten Menschen hatten damals keine klare Vorstellung, wie sie das Land reformieren wollten. Es hieß dann immer, ein paar Jahre nachher, in Retrospektive, dass sie eine gewisse Blaupauser in der Schublade hatten, sie hatten gar keine. Am Anfang hieß es, sie wollten einen Fluss durchwaten, indem von Stein zu Stein vorwärts tasten. Dieser Slogan entstammte aus dem Jahre 1981, zwei Jahre nach dem Start zu den Reformen. Die anderen Seiten wussten zwar sicher, was sie machten, sie wussten nur nicht sicher, welche Folgen das hatte, was sie bisher gemacht hatten. Sie wollten ohne Mao eine maoistische Diktatur aufrecht erhalten. Es war heute aus dem Rückblick gesehen nicht mehr ein Machtkampf zwischen jenen, die klare Visionen in die Zukunft hatten und denen in die klare Vergangenheit zurück, sondern beide Lager hatten überhaupt keine Ahnung. Die einen hatten keine Ahnung, wie sie sich die Zukunft vorstellen, die anderen hatten keine Ahnung, wie die Vergangenheit sich auswirken könnte.

Bürger: Als Deng Xiaoping mit seinen Reformideen dann das Land aufrüttelte, da kam mit ihm ja kein junger Rebell an die Macht. Deng war damals 74 Jahre alt und er hatte bereits eine lange politische Vergangenheit hinter sich. Was waren denn seine Stärken, die ihm das ermöglichten, so grundlegendere Reformen einzuleiten?

Shi Ming: Seine Stärke ist auf jeden Fall der fast legendäre Hüterpragmatismus. Er hatte auch schon als ausführendes Organ der kommunistischen Partei in den 50er-Jahren immer wieder betont, dass ihm nicht die Ideologie, nicht die Political Correctness wichtig war, sondern die Wirkung. Er hatte ja diesen sehr legendären Slogan geprägt, ganz egal, welche Farbe die Katze hat, Hauptsache, sie fängt Mäuse. Diese sogenannte These der Katzen, die wird heute wieder 30 Jahre danach hoch gefeiert als überhaupt den ideologischen Coup, den damals die Führung der kommunistische Partei gelandet hätte. Nur seine Stärke ist zugleich auch die Quelle seines Unheils. Der Pragmatismus, den Deng Xiaoping immer gefahren hat, heißt aber auch politischer Opportunismus. Zum Beispiel, wir erinnern uns zehn Jahre nach dem Start der Reformen kam es zu dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo Deng selbst den Schießbefehl wohl unterzeichnet hat. Wir erinnern uns natürlich an Dengs Versprechen drei Jahre nach dem Massaker, wieder die Wirtschaftsreformen vom Zaun zu brechen. Für ihn, und darin sind sich auch die meisten Chinabeobachter einig, zählten nur noch der Machterhalt der kommunistischen Partei. Das ist das einzige, ich sage mal, Programm, das bisher die größte kommunistische Partei noch zusammenhält.

Bürger: In welcher Form aber geschieht das? Schließlich hat sich doch das Leben und das Denken der Chinesen durch die wirtschaftliche Reformpolitik grundlegend verändert?

Shi Ming: Das ist wohl sehr, sehr richtig gesagt. Und zwar eben darin zeichnen sich diese Veränderungen ab, dass zuerst eine Endpolitisierung des Alltagslebens so vonstatten ging. Ich war damals so an die 20, 21. Damals war es so steif und prüde, auch in den Großstädten, dass man es nicht wagte, wenn ein junger Mann eine junge Frau liebte, dass sie beide sich diese Liebesworte austauschen, "Ich liebe dich" oder "Du liebst mich". Das war damals absolut verboten. Man musste ausweichen in naturlyrische Bilder, sozusagen Weidenzweige schwingen sanft in der Brise, was das auch immer heißt. Das verändert sich schlagartig. Ich erinnere mich noch, als junger Student lernten wir sehr schnell europäische Gesellschaftstänze. Es waren dann wieder so Pops wie "Lovestory", wie "Lady In Red" in allen Ohren, in allen Radiokanälen. Es waren dann plötzlich auch deutsche Schlagerfilme wie Heintje-Filme "Kleine Kinder, kleine Sorgen" im Kino. Diese Endpolitisierung veränderte zuerst das Bewusstsein der Städter, was politisch natürlich auch verheißungsvoll war, denn man hatte endlich die Freiheit ohne Politik. Heute ist die Lage anders. Man hat die Freiheit ohne Politik nicht mehr in der Hand. Man hat aber die Freiheit der Wirtschaft, des Privaten immer noch quasi für sich in Anspruch nehmen können, zum Beispiel die private Wohnung und die privaten Reisefreiheiten. Das reicht zwar jetzt im Moment nicht mehr, aber vor 30 Jahren, als das begann, war das eine große Verheißung.

Bürger: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem chinesischen Journalisten Shi Ming. Wir sprechen über 30 Jahre Reformpolitik und natürlich auch die eine große Reform, auf die noch viele warten, die Demokratie. Für große Unruhe sorgt derzeit die zuerst im Internet veröffentlichte Charta 08. Über 300 Erstunterzeichner fordern nach dem Vorbild der Charta 77 in der Tschechoslowakei die Achtung der Menschenrechte und mehr Freiheit in China. Mittlerweile sollen bereits 500 Chinesen diesen Aufruf unterschrieben haben, während einige deshalb auch von der Polizei vernommen und unter Druck gesetzt worden sind. Herr Shi, wie relevant ist diese Bewegung Ihrer Ansicht nach?

Shi Ming: Diese Bewegung ist in mehrfacher Hinsicht sehr relevant, in einem besonders. Denn wir erinnern uns, 1989 waren zuerst die Studenten, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens gekommen sind. Bis zum Ende waren die anderen sozialen Schichten allenfalls nur Sympathisanten. Heute fast ist die Lage umgekehrt. Die Unterzeichner der Charta 08 waren oder sind, inzwischen sind es 6000, mehrfach betont, Nichtstudenten, sondern Arbeiter, Bauern, Angestellte, breitere soziale Schichten waren oder sind diesmal von vornherein dabei. Das verändert natürlich die Kräfteverhältnisse zwischen den Protestierenden einerseits und den Machthabern auf der anderen. Denn 1998, als die Studentenbewegung niedergeschlagen wurde, konnte die politische Führung noch auf andere soziale Schichten pochen. Sie konnten noch die Bauern gegen die Studenten aufwiegeln, die Arbeiter sowieso. Heute ist dies nicht mehr möglich. Insofern ist diese 08-Charta von großer Bedeutung. Die zweite große Bedeutung ist das Internet, weil das Internet über internationale Verbindungen hinweg den Chinesen die ungeahnte Freiheit gegeben hat, trotz allen Zensuren ihre Stimmen verlautbaren zu lassen. Das ist natürlich bisher noch nie so in der Form gewesen.

Bürger: In Deutschland hat die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" den Text dieser Charta 08 gestern abgedruckt, das chinesische Original abschnittweise im Wechsel mit der deutschen Übersetzung. Und wenn man das liest, das klingt das alles sehr westlich. Da fallen Begriffe wie Menschenrechte, Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie, Umweltschutz, soziale Sicherungssysteme, lauter Begriffe, die uns ganz selbstverständlich sind. Ist das tatsächlich eins zu eins so richtig aus dem Chinesischen übersetzt worden? Das heißt, denken die kritischen Chinesen so explizit westlich europäisch?

Shi Ming: Nicht nur die chinesischen Dissidenten und nicht nur die chinesischen Oppositionellen denken so sehr europäisch. Wenn man die chinesische politische Sprache auch der Behörden liest, dann merkt man, dass auch diese Behörden zumindest per Lippenbekenntnis auch äußerst europäisch geworden sind. Sie argumentieren, selbst wenn sie ihren Machterhalt verteidigen wollen, immer noch europäisch. Wir erinnern uns zum Beispiel, dass diese politische Führung den westlichen Journalisten zulasten gelegt hatte, diese hätten die Pressefreiheit, die Prinzipien der Wahrheitswiedergabe der Presse verletzt während der Tibetkrise in diesem März 2008. Wir erinnern uns, dass auch die chinesische Führung international die Menschenrechte in den Mund genommen hatte, um die Amerikaner schachmatt zu setzen usw. Das heißt, rein politisch gesprochen, ist die heutige Sprachregelung auf beiden Seiten europäisch geworden, abendländisch geworden. Der Unterschied ist nur, der eine nutzt die Sprache, um quasi ein Programm zu deklarieren, das ist das Lager der Oppositionellen, der Dissidenten und viele anderer Menschen mehr. Die anderen nutzen die gleiche Sprache als Entschuldigung für das, was sie nicht machen, was sie unterlassen, zum Beispiel dass sie die Menschenrechte zwar deklarieren, in die chinesische Verfassung reingeschrieben haben, dass sie das aber nicht ernst nehmen, zum Beispiel die Streikrechte, die es immer noch nicht gibt. Aber die Streikrechte sind jetzt in südchinesischen Zeitungen auch offiziell ein Thema geworden, auch wenn die Streiks selbst nicht zugelassen sind. Das sind die chinesischen Gegenwartsbilder, die sich zwar wiedersprechen, aber die Einigkeit herrscht in der Sprache.

Bürger: 30 Jahre Reformpolitik in China. Ein Gespräch mit dem chinesischen Publizisten Shi Ming über die grundlegenden Veränderungen seines Landes. Haben Sie vielen Dank, Herr Shi!
Shi Ming, freier Journalist und Publizist in Deutschland
Shi Ming© Ming Shi