Abschied vom "Aufstiegsversprechen der Republik"

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Joachim Scholl · 15.02.2010
Mit seinen Äußerungen zu Hartz-IV-Empfängern habe FDP-Chef Westerwelle das alte sozialstaatliche Gebot "Wohlstand für alle" aufgekündigt, sagt der Politologe Albrecht von Lucke. Bisher habe gegolten, dass von Wohlstandszuwächsen immer auch die Schwächsten profitieren müssten.
Joachim Scholl: Kein Kommentar zum Karlsruher Hartz-IV-Urteil der vergangenen Woche schlägt so viele und so hohe Wellen wie die Äußerungen von Guido Westerwelle. Mit Formulierungen wie "spätrömischer Dekadenz" und dem "anstrengungslosen Wohlstand", den das bestehende Sozialsystem vermeintlich allen bietet, die nicht arbeiten, hat der FDP-Chef und Vizekanzler seinen Unmut auf den Punkt und viele Menschen auf die Palme gebracht. Im Studio begrüße ich nun Albrecht von Lucke. Er ist Politologe und Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag, Herr von Lucke!

Albrecht von Lucke: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Macht Westerwelle Stimmung gegen sozial Schwache oder spricht er nur aus, was eine schweigende Mehrheit im Lande doch denkt? Das haben wir vorhin unsere Hörer gefragt. Wie sähe denn die Antwort des Politologen von Lucke aus?

von Lucke: Das ist die große Frage, ob es wirklich so etwas gibt wie eine schweigende Mehrheit, auf die Guido Westerwelle ganz eklatant rekurriert. Und das ist, glaube ich, auch der Versuch, den er betreibt. Ich hoffe aber nicht, dass es diese schweigende Mehrheit gibt. Und das, glaube ich, ist vielleicht auch die grundlegende Frage, die weit über das hinausgeht, was die "TAZ" ein bisschen ironisch als der "Depp der Nation" anspielt, denn ich glaube tatsächlich, dass es dabei um eine ganz grundsätzliche Frage geht, nämlich die Aufkündigung des alten sozialstaatlichen Gebots: Wohlstand für alle.

Wenn Westerwelle heute für so etwas plädiert wie den Abstand und die Abschiednahme von angeblichem "anstrengungslosen Wohlstand", da verzerrt er ein Bild dieser Gesellschaft, in dem unendliche Zahlen von Menschen bereits abgehängt sind und in denen von anstrengungslosem Wohlstand nicht die Rede sein kann, aber auf der anderen Seite wir immer das Einverständnis hatten – und das war der alte sozialpolitische Grundkonsens der Republik: Wohlstand sollen alle erreichen können.

Scholl: Das heißt, diese Mentalität drückt sich Ihrer Ansicht zufolge in einer solchen Meinung schon aus, in der Formulierung auch dieser Meinung. Sie haben kürzlich ein Essay veröffentlicht, Herr von Lucke, den Sie mit "Propaganda der Ungleichheit" überschrieben haben. Also Ihrer These zufolge spiegelt sich in solchen Äußerungen ein zunehmend regressiver Geist in der Mitte der Gesellschaft. Was heißt denn in diesem Zusammenhang regressiv? Heißt das dann diese Aufkündigung des alten Sozialvertrags ...

von Lucke: Genau das.

Scholl: ... oder noch mehr?

von Lucke: Sie meinen ... Das, was Sie ansprechen, der Punkt ist der: Wir hatten das Verständnis darauf, dass Progression, also Fortschritt der Gesellschaft, darin bestand, dass alle teilhaben können, dass Teilhabe darin besteht, in Arbeit auch eben zu Wohlstand zu kommen.

Die Regression besteht jetzt darin, dass in dem Maße, in dem etwas wie große Angst in diese Gesellschaft einzieht und das auch durchaus in diese Mitte, an die Westerwelle anspielt – und er macht das ja zu einem Zeitpunkt, der ganz geschickt gewählt ist, in einem Zeitpunkt, wo große Unklarheit herrscht, wohin dieses Land geht, wohin die Große Koalition geht. Er sieht, dass Angst einzieht, das Wissen darum, dass es in diesem Jahr – wie die Kanzlerin auch in der Regierungserklärung angesagt hat –, dass es hart wird, dass es Notwendigkeiten gibt, Einschnitte zu machen.

In diesem Augenblick, in dem Wissen darum auch, dass die Werte der FDP absacken, spricht er ganz gezielt eine Mitte an, die nicht mehr die Aufstiegshoffnung der früheren Zeiten hatte, sondern die jetzt die große Abstiegsangst gepackt hat. Und das Wissen darum, dass wenn man nicht mehr aufsteigt, man aber trotzdem den Abstand nach unten halten will, das nur noch gehen kann dadurch, dass man die anderen unter sich lässt, an dieses Gefühl dieser neuen Mitte spielt er an. Und das meine ich, wenn ich von einer regressiven Mitte spreche – eine Mitte, die Angst kriegt, die Sorge hat, dass sie nicht mehr aus eigenem Antrieb nach oben kommen kann und die deshalb versucht, den eigenen Besitzstand zu halten.

Scholl: Es hat Ihrer Meinung nach, die Sie auch in diesem Essay formulieren, etliche, ja, etliche prominente intellektuelle Stimmen gegeben, die praktisch also, ja, dieser Regression Vorschub leisten. Wir erinnern an, oder Sie erinnern an Thilo Sarrazin und sein ominöses Interview zu den Migranten oder auch an Peter Sloterdijk, der also auf einer merkwürdigen neo-nietzscheanischen Welle reitet, die da heißt, also ungleich oder die Gleichheit, das ist sowieso ein verfehltes Konzept. Nun haben beide Denker – Sarrazin wie Sloterdijk – ja doch auch breiten Zuspruch auch insofern erfahren, als es hieß, endlich sagt mal jemand, was viele doch vielleicht denken, auch Guido Westerwelle hat darauf jetzt rekurriert, dass man in Deutschland doch auch mal …, das wird man mal sagen dürfen, und wenn man es kritisiert, dann ist man gleich ein Sozialist. Ich meine, warum sollte man es eigentlich nicht formulieren?

von Lucke: Ja, das ist die Tradition des Tabubruchs, des gezielten Tabubruchs, und das hat interessanterweise Sloterdijk genau in der gleichen Weise gemacht. Der hat gewissermaßen gesagt: Der Geist der Zeit sendet neue Signale, wir müssen sie bloß aufnehmen, wir müssen dafür sensibel sein, wir müssen hören, was sie senden. Und dieser Begriff der Dekadenz ist keineswegs einer, den Westerwelle erfunden hätte, das ist ein Begriff, der bereits vor drei Jahren von Karl Heinz Bohrer, dem Herausgeber des "Merkur" in einem prominenten Band mit guten versammelten konservativen, rechtskonservativen Autoren ausgedeutet wurde, unter anderem auch Norbert Bolz, die dezidiert sagen, wir müssen Abschied nehmen von einem Prinzip der Gleichheit, weil das dazu führt, dass der Wille zur Produktivität nicht mehr umgesetzt wird.

Das hat dann Sloterdijk aufgenommen, indem er sagte: Wir haben eine große neue Trennung in der Gesellschaft zwischen den Produktiven, die die Gesellschaft voranbringen, den sogenannten Leistungsträgern, gegenüber den Unproduktiven, die wir nur noch mitschleppen, ganz hart gesprochen. Und dort müssen wir deshalb Abschied nehmen vom Steuerstaat, vom Umverteilen. Und dann sagt er so schön: Dieser Geist der Zeit wird gesendet und man muss ihn empfangen.

Und was haben wir jetzt erlebt? Jetzt hat ihn gewissermaßen Westerwelle empfangen. Westerwelle hat gewissermaßen den geistigen Überbau aufgenommen, er hat deswegen dezidiert auch das umgesetzt, was er bereits vor wenigen Tagen ankündigte, nämlich seine geistig-politische Wende hat er unterfüttert mit dem, was er jetzt bringt. Und das ist, glaube ich, etwas und deswegen meine durchaus skeptische Einschätzung, was ich befürchte, auf mehr Zuspruch stößt in der Bevölkerung als die "TAZ" es meint, mit dem "Deppen der Nation" so leicht abtun zu können.

Leider, glaube ich, und das ist, glaube ich, auch in Ihren Diskussionsbeiträgen zum Ausdruck gekommen, gibt es viele, die sagen, das muss endlich gesagt werden können, und das aber in einer Weise – wenn beispielsweise Westerwelle sagt, wir leben in sozialistischen Zuständen, dann muss man sich vorstellen, wir leben in Zuständen, in denen viele, wie das Hartz-IV-Urteil gerade zum Ausdruck brachte, in denen viele am Rande des Existenzminimums leben, in denen dezidiert falsche Sätze angesetzt wurden, gerade bei Kindern, in denen also Erhöhungen greifen müssen, in denen also ein, wie es das Verfassungsgericht sagte, ein Grundrecht, ein Grundrecht der Menschenwürde auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens nicht rundweg geleistet wird. In dem Augenblick bricht Westerwelle mit einer derartigen Debatte ein, und das, meine ich, ist der Anstoß dafür, eine ganz neue Diskussion zu begründen.

Scholl: Guido Westerwelle und die spätrömische Dekadenz unserer Gesellschaft. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politologen Albrecht von Lucke. Nun sind schon etliche Namen gefallen, man könnte vielleicht noch zu Peter Sloterdijk und Thilo Sarrazin Henryk M. Broder zählen, Arnulf Baring, Norbert Bolz haben Sie selbst genannt, eine ganze Phalanx von intellektuellen, ja durchaus prominenten Köpfen, die also gegen die betonte Gleichmacherei in Opposition gehen. Das muss ja noch nicht unbedingt jetzt die politische Konsequenz haben, dass hier also sagen wir mal keine Differenz mehr geduldet wird, eigentlich man könnte ja sagen, sie sprechen sich für die Differenz oder für die Differenzierung aus, das muss ja nicht gleich auf Kosten der sozialen Solidarität gehen. Oder ist das die notwendige politische Konsequenz, die dann eben auch von Westerwelle so weitergedacht wird?

von Lucke: Das ist interessant, das ist ganz bemerkenswert, wie gewissermaßen an einen postmodernen Differenzdiskurs, kann man sagen. Axel Honneth hat das in einem interessanten Beitrag in der "Zeit" aufgenommen ...

Scholl: Frankfurter Philosoph.

von Lucke: ... der Frankfurter Philosoph Axel Honneth, indem er sagte, es gibt einen postmodernen Differenzdiskurs der 80er-Jahre, der gewissermaßen im kulturellen Raum waberte, der aber natürlich immer auf der Grundlage existierte, dass die soziale Frage da nicht grundsätzlich angegangen wird. Aber jetzt wird dieser Differenzdiskurs gewissermaßen vom kulturellen Bereich in den ökonomischen übertragen. Das heißt, die Differenzfrage, die Gleichheitsfrage wird mit aller Massivität gestellt, und das Interessante – und das war für mich das Bemerkenswerteste Ihres einen Beitrags –, der Dekadenzbegriff, der ja interessanterweise kein Begriff ist, der sich primär auf die unten nur bezieht, sondern einer ist, der sich auf die Dekadenten oben bezieht, der auch meint letztlich, es gibt so etwas wie leistungsloses Einkommen und diese Ungleichheit des großen leistungslosen Einkommens haben wir in ganz großem Maße, wir haben ja sogar in den letzten Jahren gesehen, wie Einkommen erzielt wurde durch radikale Nichtleistung beziehungsweise durch verheerende zerstörende Leistungen, wenn wir an die Boni der Banker denken und dergleichen. Dieses Maß an Dekadenz, dieses Maß an Fragen von Nichtleistung – wer sind eigentlich die Leistungsträger, die ständig von Westerwelle, auf die rekurriert wird.

Da wird nie die Frage aufgeworfen, ist das die Klientel der FDP vielleicht gerade nicht mehr, sind das nicht diejenigen, die in den Banken jetzt schon wieder Bonis verdienen? Diese Frage, das ist der eigentliche, vielleicht wirklich harte Auseinandersetzung, die nicht gestellt wird, sondern es wird gewissermaßen der Dekadenzbegriff von oben nach unten gewendet, es sind die Dekadenten da unten, die sich gerade noch mühevoll zu den zunehmenden Suppenküchen schleppen, denn das sind die Erhebungen, die wir haben. Und das ist die Ironie, dass gewissermaßen ein Kampfbegriff, der eigentlich auch mal gegen die Oberen gerichtet war, gewissermaßen jetzt nach unten gewendet wird.

Scholl: Was aber bedeutet dann dieser Diskurs aktuell für die praktische Politik, also auch für die schwarz-liberale Koalition? Sie haben es schon kurz angesprochen, Herr von Lucke. Es ist ja doch schon auffällig, dass Guido Westerwelle für seine Äußerungen manchmal ein unfrohes und doch sehr gemischtes Echo vonseiten der CDU/CSU erhält. Die Kanzlerin ließ verlauten, dass diese Formulierung dezidiert nicht ihre Wortwahl seien. Steht er politisch doch nicht recht isoliert da mit dieser Zuspitzung dieses Diskurses, von dem Sie sprechen?

von Lucke: Ja, aber Westerwelle hat ein großes Plus, Westerwelle hat politisch seine Position in der Koalitionsvereinbarung durchgebracht, und das ist das große Dilemma der Kanzlerin. Sie kann sich zwar einerseits gegen den Diskurs verwehren, sie kann aber nicht sich verwehren gegen die Tatsache, dass sie, aufgrund der Tatsache, dass sie sich nicht entschieden genug durchgesetzt hat in den Koalitionsvereinbarungen, dass sie sämtliche Steuersenkungsversprechungen der FDP durchgebracht hat. Das heißt, Westerwelle kann sich darauf berufen, dass das vereinbart ist, dass es also zu Entlastungen auch der Bessersituierten kommen wird, und vor dem Hintergrund spricht er etwas aus, was durchaus auf dem Papier steht.

Also man kann, überspitzt formuliert, sogar seine jetzt, ich nenne es mal, regressive Wut durchaus verstehen, weil er sagt, das haben wir doch vereinbart, das muss durchgesetzt werden. Und es ist kein Zufall, dass Wolfgang Schäuble – der Mann, der über das Geld zu walten hat –, dass er auch sagt, natürlich mit ganz anderem Ton, es ist etwas dran, wir werden auch, weil er sich selbst an diese Vereinbarung gebunden fühlt, er muss selber etwas durchbringen, was jetzt Westerwelle populistisch ausbeutet.

Scholl: "Wachstum, Bildung und Zusammenhalt" lautet die Überschrift über dem Koalitionsvertrag. Zusammenhalt, das könnte man ja durchaus auch mit Solidarität übersetzen, Solidarität mit eben sieben Millionen Hartz-IV-Empfängern bei uns, dass sie eben auch zu uns, zur Gesellschaft gehören. Ich meine, diese Phrase führen CDU- oder FDP-Politiker durchaus noch im Mund. Wird die sich sozusagen so als modrig erweisen?

von Lucke: Ja, unbedingt, das sagen Sie sehr treffend. Das ist etwas modrig, man muss auch immer sehen, dass der Zusammenhalt immer schon eine Schwundstufe gewissermaßen des Solidaritätsgedankens war. Zusammenhalt, das war gewissermaßen der compassionate conservatism, also das ist der mitfühlende Konservatismus, der gleichermaßen propagiert wurde.

Aber dieser Zusammenhalt, das merkt man, wird porös. Er wird nicht mehr durchgängig durchbuchstabiert, und er ist nicht mehr das, was früher mal – und das macht die eigentliche Ironie aus – in den 70er-, in den 60er-Jahren, in der ganzen alten bundesrepublikanischen Geschichte eigentlich gedacht war als das Aufstiegsversprechen der Republik und auch gemeinte hatte, dass aus den Wohlstandszuwächsen, die es ja auch in den letzten Jahren gegeben hat, auch dezidiert immer die Schwächsten profitieren müssen, das war der Urkern auch noch eines sozialliberalen Denkens der 70er-Jahre, ein Gedanke, dass von den Zuwächsen immer auch die Schwächsten profitieren. Und von diesem Gedanken haben wir uns sukzessive verabschiedet, und dieser Parforceritt, den Westerwelle jetzt leitet im Sinne einer neuen geistig-politischen Wende, der bedeutet den endgültigen Abschied von diesem Gedanken.

Scholl: Guido Westerwelle und die Folgen. Das war der Politologe Albrecht von Lucke. Und wir werden seine Meinung und dieses Thema morgen mit der Ansicht des genannten Soziologen Norbert Bolz reflektieren, der hier auch angesprochen wurde und Guido Westerwelles Äußerung für einen wichtigen Denkanstoß hält.
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