Abruptes Ende eines Experiments

21.08.2008
Vor 40 Jahren nahm der "Prager Frühling" ein jähes Ende. Moskau zerschlug mit brutaler Militärgewalt das Experiment "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Ein 70-köpfiges Forscherteam hat die Geschehnisse in einem 2900 Seiten umfassenden Monumentalwerk aufgearbeitet und präsentiert bislang geheime Quellen.
Prag am 20. August 1968, ein warmer Dienstagabend: Gegen 22 Uhr landet eine sowjetische Militärmaschine, weitere folgen, Fallschirmjäger besetzen die Stadt, dann rollen Panzer aus den "Bruderländern". Die Truppen des Warschauer Vertrags, 250.000 Mann, beenden das Sozialismus-Experiment von Alexander Dubček und Genossen. Rund 500 Menschen sterben.

40 Jahre später präsentiert ein Institut aus Österreich nun ein monumentales Opus über den "Prager Frühling", seine Folgen und den internationalen Kontext – viereinhalb Kilo, verteilt auf zwei Bände und 2900 Seiten. Den PR-Spruch des Projektleiters, Prof. Stefan Karner, es sei das "größte und umfassendste Werk" zum Thema, mag man gern glauben. Dutzende Institutionen und Archive aus Europa und den USA waren involviert. Jahrelang mussten die Forscher in Moskau antichambrieren, dann, 2005, öffnete sich auf Putins Geheiß auch das Russische Staatsarchiv für Zeitgeschichte (früher: Archiv des ZK der KPdSU). Der Preis: Archivleiterin Natalja Tomilina durfte (oder musste) mit an Bord des Projektschiffes. Entsprechend vorsichtig wurde der Umgangston des Teams und seiner Schriften; obgleich es um die Aufarbeitung russischer "Sünden" ging, mochte niemand den Russen wehtun.

Tausende bislang geheim gehaltene Dokumente konnte die Crew auswerten. Band zwei der Publikation enthält nun einen Teil der Quellen (russisch-deutsch), der erste Band versammelt Monographien. Das Spektrum der Beiträge ist fast unüberschaubar. Dies sind einige Themen: Die Tschechoslowakei vor, während, nach der Ära Dubček; die Reaktionen der Atommächte; die Auswirkungen von "Prager Frühling" und Invasion auf Ost- und Westeuropa; das Spiel der Geheimdienste (KGB, CIA, Stasi); die ambivalente Rolle Österreichs; Erinnerungen von Zeitzeugen. Am Ende wird der tschechische Streit um das Erbe des "Prager Frühlings" thematisiert. (Teile der neuen Elite sehen bei der Rückschau nur einen Flügelkampf kommunistischer Fraktionen; die Reformer hätten eine "illusorische und schwächliche Politik" verfolgt.)

Was ist neu an dem gigantischen Werk? Eine Menge: Dubček, in Moskau aufgewachsen, war in Breschnews Augen nicht Gegenspieler, sondern sein Mann in Prag. Entsprechend zögerlich zeigte sich der KPdSU-Chef, als im Frühjahr 1968 über einen Einmarsch diskutiert wurde. Als Hardliner profilierten sich andere – die KP-Führer aus Polen und Bulgarien sowie SED-Chef Ulbricht. Sie drängten auf eine Niederschlagung der "Konterrevolution". Jedoch: Die Nationale Volksarmee der DDR war (von kleinen Trupps abgesehen) beim Feldzug nicht dabei. Stunden vor der Invasion kam das "Stopp" aus Moskau. 30 Jahre nach 1936 mochte man nicht wieder deutsche Truppen in Prag sehen. Walter Ulbricht war über die Entscheidung tief gekränkt. Westliche Staaten, so auch die USA, wurden von der Invasion überrascht, signalisierten dann aber, sie würden stillhalten. Proteste gegen den Einmarsch gab es hingegen "bis in die hintersten Winkel des Sowjetstaates" (Prof. Karner).

Die Leistung des internationalen Forscherteams ist unbestreitbar. So breit und so tief ist noch niemand in die Materie eingestiegen. Dennoch, es gibt Anlass für Kritik. Der Neuwert wurde nicht gut herausgearbeitet, man muss sich die Fakten zusammensuchen. Die Herausgeber neigen zur Mythisierung ihres Forschungsgegenstandes. Beispiele: Der gut klingende, aber illusorisch-naive Reformer-Slogan vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" wird nicht in Frage gestellt, Dubček selbst wird idealisiert. Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch die inflationäre und unreflektierte Nutzung des Begriffs Freiheit in Bezug auf die ČSSR von 1968.

Was hätte man den Herausgebern wünschen mögen? Zum einen: kluge Selbstbeschränkung angesichts der Materialfülle. (120 Seiten österreichische Nabelschau etwa sind recht viel ...) Zum anderen: couragierte Lektoren. Die Texte wirken langatmig. Von einer packend erzählenden Geschichtsschreibung, wie sie Theodor Mommsen (Literatur-Nobelpreis 1902) oder Joachim Fest schätzten und wie sie britische Historiker pflegen, halten die Autoren offenbar nichts. Schlimmer noch: Der Stil ist streckenweise erbärmlich, der Einführungsessay zum Beispiel schwer verdauliche Kost. Wir finden überlange Sätze (mit einer Fülle "verschachtelter" Fakten), viel Abstraktes, viel Redundanz, "Substantivitis" – und Ausdruckschwächen, die zu unsinnigen Aussagen führen. (Über die Lage in Polen 1968: "Im Gegensatz zur Tschechoslowakei wurde das Aufbegehren gegen die kommunistische Herrschaft brutal im Keim erstickt.") Ein tschechischer Co-Autor adelte das Opus schon bei Erscheinen zum "Standardwerk", Österreichs Wissenschaftsminister (einer der Geldgeber) kam mit der Idee, die dickleibigen Bände im Unterricht besprechen zu lassen. Schüler würde das wohl ein wenig überfordern.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan u.a. (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968
Band 1: Beiträge
Band. 2: Dokumente
Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2008
Zusammen 2900 Seiten, 84,90 Euro