Abrechnung mit dem Nazisystem

Rezensiert von Brigitte Neumann |
Vor 60 Jahren, am 20.11.1945, begann in Nürnberg das Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher Hitler-Deutschlands. Scharen von Reportern und Schriftstellern kamen in die Stadt, um über das Tribunal zu berichten. Steffen Radlmaier, Feuilletonchef der Nürnberger Nachrichten, suchte überall in der Welt die Artikel zusammen, die damals über den Prozess veröffentlicht wurden und versammelte sie in einem Buch. Eine Auswahl dieser Texte findet sich nun auf der CD mit dem Titel "Der Nürnberger Lernprozess".
Nürnberger Nachrichten, 21. November 1945: "Weltpresse schreibt, funkt, knippst.
250 Journalisten und Rundfunkberichterstatter sowie elf Fotografen und Filmprodukteure aus allen Teilen der Welt werden den Prozessverhandlungen ständig beiwohnen. Die amerikanische Presse stellt das größte Kontingent mit 100 Vertretern. Dann folgt das britische Weltreich mit 50. Frankreich schickt 40 bis 50, Russland 25 bis 30 Journalisten. Fünf Sitze sind für deutsche Journalisten reserviert."

Die vier Mächte sind nach Nürnberg gekommen, um über die Gräueltaten der Nazis zu richten. Auf der Anklagebank: 21 Kriegsverbrecher, darunter Herrmann, Göring, Heß und Streicher. Auf der Pressebank Starreporter, zum Beispiel Hemingway, John dos Passos, John Steinbeck, Erich Kästner und der spätere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt. Er berichtete als Korrespondent für skandinavische Zeitungen über das internationale Tribunal ...

Brandt: "Der amerikanische Psychologe Kelly hat Intelligenztests unter den in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrechern vorgenommen. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber der Major meint, schon jetzt feststellen zu können, dass Göhring konkurrenzlos den 1. Platz für sich beanspruchen kann. Das ist eine Überraschung und eine weitere Bestätigung dafür, dass Wahnsinn mit gut entwickelten Geisteskräften verbunden sein kann."

Der Autor von Berlin Alexanderplatz, Alfred Döblin, schreibt einen in seiner Wut anrührenden Text über die Ankläger in Nürnberg, die nicht bei Gericht erschienen, die Millionen Toten nämlich. Der Prozess in Nürnberg sei ein weltbewegendes Ereignis, war Döblin überzeugt ...

Döblin: "Mann kann es nicht oft genug und nicht freudig genug wiederholen: Es geht bei dem Prozess in Nürnberg um die Wiederherstellung der Menschheit – zu der auch wir gehören."

Ein anderer Schriftsteller, Gregor von Rezzori seziert voller Abscheu und mit mikroskopischem Blick jede Regung der berühmtesten Monster der Weltgeschichte auf der Anklagebank in Nürnberg. Besonders Rudolph Heß, Hitlers Stellvertreter, hat es ihm angetan. Im längsten Beitrag auf der CD "Der Nürnberger Lernprozess" hören wir Gregor von Rezzoris Beobachtungen über Heß, der nach neun Monaten Verhandlung nun ein Schlusswort abgeben soll.

"Seine Augen schauen so verzweiflungsdüster aus dem Schatten der buschig zusammengewachsenen Nietzsche-Brauen, dass sie geradezu Saugwirkung ausüben. Man blickt hinein wie in die Mündung zweier manövermäßig getarnter Periskopröhren ... Sie drehen sich am bleichen Stil des Halses, der welk aus dem viel zu weit gewordenen Hemdkragen wächst. Und jetzt aus einem zwischen Hautsäcken und Sehnen auf- und niederwippenden Männerchor-Adamsapfel ein grämlich klagendes Stimmchen vernehmen lässt."

Heß bittet darum, sitzen bleiben zu dürfen. Er fühle sich krank.
Der amerikanische Chefankläger kommt seiner Bitte nach.
Es ist niederschmetternd, da sitzen diese Kriegsverbrecher, Völkermörder und Megasadisten. Und sagen, sie hätten halt machen müssen, was der Hitler anordnete. Im Übrigen sei ihnen schlecht. Keine reinigende Katharsis am Ende, nur feiges Dünnemachen. Und das gilt, stellt der Journalist und Schriftsteller Wilhelm Emanuel Süßkind fest, schließlich ja auch für den Rest des Volkes, das sich einst einreden ließ, die Krone der Schöpfung zu sein:

"Durch ganz Deutschland geht 1000-fach, nein, millionenfach die Rede: Ich war ja nur Soldat. Oder abgewandelt: Ich war ja nur ein kleiner Mann. "

Steffen Radlmaiers Sammlung von Texten über das Nürnberger Tribunal ist sinnvoll angeordnet – datierte Artikel der Nürnberger Nachrichten geben Orientierung, wo innerhalb des neunmonatigen Prozesses wir uns gerade befinden. Geräusche und Atmosphären machen es dem Hörer leicht, sich einzustimmen. Die Theaterschauspieler Sascha Icks, Josef Tratnik und Wolf Frass leisten gute Arbeit. Die muss der Hörer auf seine Weise auch tun, denn er hat sich aus den vielen Einzelwahrnehmungen und -meinungen sein eigenes Bild von der Nürnberger Abrechnung mit dem Nazisystem zu bauen.

Steffen Radlmaier (Herausgeber): Der Nürnberger Lernprozess
Sprecher: Sascha Icks, Wolf Frass, Josef Tratnik
Inszenierte Lesung
Eine Produktion des Verlags Eichborn Lido
2 CDs mit insgesamt 156 Minuten
19,95 Euro

Vorlage für die CD ist folgende Buchveröffentlichung:

Steffen Radlmaier (Herausgeber): Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern
Frankfurt 2001
Eichborn Verlag
Die Andere Bibliothek Band 199
416 Seiten
51 Fotos
30,00 Euro