Abrechnung in der Abenddämmerung

Von Kathrin Hondl · 24.05.2006
Frankreich erlebt derzeit unruhige Zeiten. Und manche sprechen inzwischen von einer regelrechten Staatskrise. Im Mittelpunkt: der Staatspräsident, Jacques Chirac. Nicht nur Skandale und Unruhen begleiten das Ende seiner zweiten Amtszeit, es ist auch eine Zeit der Abrechnungen mit einem Mann, der seit 40 Jahren das politische Leben in Frankreich (mit)dominiert. Artikel, Bücher und jetzt auch ein Kinofilm gehen hart mit ihm ins Gericht.
Nächste Woche kommt er in die französischen Kinos : "Dans la peau de Jacques Chirac" – "In der Haut von Jacques Chirac" – ein Film über die Ära Chirac: eine Stunde und dreißig Minuten Chirac, zusammengeschnitten aus Archivmaterial – aus den Fernsehbildern einer 40-jährigen Politikerkarriere: eine, so die Ankündigung, "nicht autorisierte Autobiografie", eine "Hommage", wie es heißt, "an unseren größten französischen Schauspieler". Und schon die Plakate und Trailer lassen keinen Zweifel daran, dass hier ein besonders böses Portrait des Staatspräsidenten zu erwarten ist.

Man habe ihm häufig zu Recht vorgeworfen, ein Lügner zu sein – sagt da zum Beispiel der Leinwand-Chirac. Und grinst. Eine Grimasse, die der Journalist Franz-Olivier Giesbert als Chiracs "übliches falsches Lächeln" beschreibt. Giesbert – Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Le Point" – hat die bisher erfolgreichste Abrechnung mit Chirac vorgelegt: "La Tragédie du Président", "Die Tragödie des Präsidenten" heißt sein Buch - ein Bestseller, dessen Erstauflage bereits am dritten Tag nach Erscheinen vergriffen war. Über 300.000 Exemplare wurden seither verkauft. Es ist das zweite Chirac-Buch von Franz-Olivier Giesbert. Ende der 80er Jahre hatte er noch eine sehr respektvolle Chirac-Biographie geschrieben – und nun also: die Chirac-Tragödie. Ein Enthüllungsbuch, in dem Giesbert öffentlich macht, was ihm Chirac in zahlreichen Gesprächen unter vier Augen anvertraut hat.

"Ich habe dieses Buch jetzt geschrieben, weil ich denke, dass Chirac ab dem 29. Mai 2005 politisch tot war. Nachdem er das Referendum zur Europäischen Verfassung verloren hatte. Seither ist es für ihn sehr, sehr schwierig geworden, politisch überhaupt zu existieren. Schließlich ist Frankreich eines der Gründerländer Europas. Chiracs Position wurde sehr wacklig und kompliziert – ich war überzeugt, dass er sich davon nicht mehr erholen würde. Deshalb war für mich der Moment gekommen, das Buch zu schreiben. Bis zum Ende seiner Amtszeit 2007 wird sich nichts mehr ändern. Wir befinden uns sozusagen mitten im klassischen Endzeit-Szenarium, wie wir es auch schon bei Mitterrand erlebt haben: dem "Fin de Règne". Ein Präsident versucht trotz aller Schwierigkeiten zu überleben – aber er regiert nicht mehr."

Vom Pathos nach dem Nein beim Referendum zur EU-Verfassung über die allzu späte Fernsehansprache nach den wochenlangen Unruhen in den Banlieues bis zur Clearstream-Affäre zeichnet Giesbert ein verheerendes Bild des Staatspräsidenten im Endstadium. Er portraitiert Chirac als fast schon pathologischen Lügner, als häufig alkoholisierten Vielfraß und prinzipienlosen Machtmenschen, der Entscheidungen scheut und sich wie ein Fähnchen im Wind an Volkes Stimmung orientiert.

"Zum Beispiel der Irak-Krieg. Ich war gegen diesen Krieg und insofern unterstützte ich Chiracs Position. Aber wenn man mir heute weismachen will, wie mutig Chirac da gewesen sei, sage ich: nein. Chirac war nicht mutig. Denn was den Irak betrifft, ist er einfach nur der öffentlichen Meinung gefolgt. Die Mehrheit der Franzosen war gegen diesen Krieg. Die französischen Politiker glauben, sie müssten sich immer nach dem Wind richten. Das ist ein großes Problem in Frankreich. Uns fehlt eine politische Klasse, die Überzeugungen hat und etwas bewegen will."

"Szenen des politischen Lebens von 1986 bis 2006" – so hat Giesbert sein Buch im Untertitel genannt. Nicht nur Chirac – auch die anderen Spitzenpolitiker des Regierungslagers werden als eitle, intrigante und ständig mit sich selbst beschäftigte Machtmenschen dargestellt und mit bisweilen peinlich vulgären Sprüchen zitiert. Ein besonderes Highlight liefert da Premierminister de Villepin. Frankreich, so zitiert ihn Giesbert, Frankreich sei wie eine Frau, die die Beine breit macht und darauf wartet, genommen zu werden. "La Tragédie du Président" präsentiert einen dekadenten Politikerklüngel um einem Präsidenten, der wirkt wie ihn der damalige sozialistische Gegenkandidat Lionel Jospin schon im Wahlkampf vor vier Jahren beschrieb: "verbraucht, gealtert, müde".

"Es dauert 20, 30, 40 Jahre bis man Präsident wird. Man darf nicht vergessen: Jacques Chirac ist in der Politik seit 1967, als er Minister unter de Gaulle wurde. Seit fast vierzig Jahren also ist er in der ersten Reihe. Und auch das ist ein Problem in Frankreich, dass ein Politiker, wenn er Präsident wird, keine Energie mehr hat und vor lauter Überdruss an kaum mehr etwas glaubt."

Die Macht ödet mich an, sagt auch der Film-Chirac, er sei lediglich dazu geschaffen, sie zu erobern, danach wisse er nicht, was er damit anfangen soll.
Die magere politische Bilanz von Chiracs Amtszeit, der Zynismus und die Intrigenspiele der Mächtigen – darum geht es sowohl in der Filmkomödie, als auch in der Bestseller-Tragödie von Franz-Olivier Giesbert. Und in vielen weiteren Grabreden auf die Ära Chirac, die nach und nach die Regale der Buchläden füllen. Ein spätes Erwachen in der Abenddämmerung – die Franzosen scheinen ihren scheidenden Präsidenten jetzt erst richtig zu entdecken – und dabei möglicherweise auch sich selbst:

"Letztlich ähnelt er den Franzosen. Der Franzose an sich ist konservativ, will keine Veränderung, ist vorsichtig, abwartend und insofern entspricht Chirac voll und ganz dem Portrait eines Durchschnittsfranzosen."