Abrechnung eines weisen Erzählers

16.08.2011
In seinem letzten Buch "Kain" zeigt der 2010 verstorbene portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago Gott als nachtragenden und gewalttätigen Schöpfer. Als das Buch in seiner Heimat erschien, löste es einen Skandal aus.
In etlichen Büchern kritisierte der portugiesische Erzähler den Machtanspruch des Klerus und die dumpfe Gläubigkeit der Massen; "Das Evangelium nach Jesus Christus" von 1991 zum Beispiel zeigt einen zweifelnden Heiland.

Mit seinem letzten Roman fand Saramago (1922 - 2010) noch einmal zu seinem Grundthema Religion. "Kain" ist die Geschichte des Brudermörders aus dem Alten Testament, eine fiktive Geschichte allerdings - die Biografie eines anderen zornigen Aufklärers, erzählt mit Augenzwinkern: Auch so hätte es gewesen sein können. Ja, dieser Kain hat gemordet, aber nur - meint Saramago -, weil der Weltenschöpfer den jungen Bauern dazu trieb. Erbost über die Gemeinheit seines Gottes wird Kain, ein im Allgemeinen "anständiger Mann", zum Rebellen. Mit dem Kainsmal auf der Stirn reist er durch die biblische Geschichte, vor und zurück.

Er sieht Gottes Strafgericht für den Turmbau zu Babel, für die Laster von Sodom und Gomorrha, für das goldene Kalb, er sieht in Jericho die Mauern stürzen, und immer sieht er Tote, viele Tote. Kain erlebt den Herrn als eitlen, nachtragenden und gewalttätigen Schöpfer. Er spürt: Dieser Gott ist tatsächlich zu allem fähig, "zum Guten, zum Schlechten und zum Schlimmsten". Bisweilen erscheint der Herr am Schauplatz in persona, bei Saramago ein Wichtigtuer mit Rauch und Blitz, neidisch auf das Glück seiner Kreaturen, und immer schärfer wird er von Kain zur Rede gestellt.

"Kain" gehört nicht zu den stärksten Romanen des Portugiesen, doch ein starkes Buch ist es allemal. Die Sprache hat, was sie bei diesem Autor immer hat: Ironie und ungeheure Sogwirkung. Der Meister präsentiert die Schauplätze des Alten Testaments in farbenfrohen Tableaus. Er entlarvt so manche Bibelgeschichte als Nonsens, manch andere schreibt er einfach um. Er amüsiert seine Leser durch gezielt platzierte Anachronismen. (Da dienen Versailles und Buckingham Palace zum Vergleich, der Guide Michelin und der Zeppelin Hindenburg.) Er verblüfft mit deftiger Erotik und zarten Liebesszenen.

In erster Linie ist "Kain" eine Art Bilanz – die Abrechnung eines weisen Erzählers mit einer verhängnisvollen Ideologie. Ganz klar: Dieses Buch entstand als gezielte Provokation; in Portugal wurde der Roman im Erscheinungsjahr 2009 erwartungsgemäß zum Skandal.

Es gibt Längen im Text, aber der Schluss ist wieder typisch Saramago - paradox, jedoch auf irritierende Weise wirklichkeitsnah. Kain gelangt auf die Arche Noah, mit Gottes Segen schwängert er dort Noahs Schwiegertöchter, und dann, überraschend, vereitelt er Gottes Plan zur Schaffung eines neuen Menschen: Aus Rache an diesem zutiefst ungerechten Herrn der Welten stößt Kain alle Frauen von der Arche ins Meer. Nach der Sintflut steht er allein vor seinem Schöpfer, und der Schöpfer – plötzlich sprachlos, ratlos, machtlos – sieht die Geschichte der Menschheit jäh beendet. Genau so, kein Zweifel, hätte es gewesen sein können.

Besprochen von Uwe Stolzmann

José Saramago: Kain
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner
Hoffmann und Campe, Hamburg 2011
208 Seiten, 20,00 Euro

Links bei dradio.de
Kritik: Die Boote der Kindheit
José Saramago: "Über die Liebe und das Meer"

Kritik: Der zornige Blogger
José Saramago: "Das Tagebuch"

Kritik: Unbeschwertes Vermächtnis eines großen Erzählers
José Saramago: "Die Reise des Elefanten"

Kritik: Kleines Buch ganz groß
José Saramago: "Kleine Erinnerungen"

Kritik: Wenn einfach niemand stirbt
José Saramago: "Eine Zeit ohne Tod"

Kritik: Wenn der Wahlzettel leer bleibt
José Saramagos Politparabel "Die Stadt der Sehenden"
Mehr zum Thema