Abklingende Freundlichkeiten

Rezensiert von Michael Opitz |
Zwei ungleiche Männer – verbunden durch die Liebe zur Literatur. 22 Jahre schreiben sich der Verleger Fritz J. Raddatz und der Schriftsteller Uwe Johnson: Vertraute Anreden, lebhafte Diskussionen. Eine Männerfreundschaft – aber nur auf den ersten Blick. Als Persönliches zur Sprache kommt, zerbricht der fragile Bund.
Mit „Lieber Herr Johnson“ spricht Fritz J. Raddatz den Autor der „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) in seinem ersten Brief vom August 1966 an. In seiner Antwort verzichtet Johnson auf alle Formalitäten und nennt Raddatz „Liebes Fritzchen“, was bei dem als distanziert geltenden Mecklenburger als ein Zeichen von Vertrautheit gewertet werden darf.

Schaut man sich allein die Anreden an, die die beiden aus der DDR „Umgezogenen“ füreinander finden – Johnson wird bei seiner Anrede bleiben und sie gelegentlich in „Liebes Fritzchen I“ erweitern und zu „Liebes Fritzchen Ohne I“ variieren, während sich bei Raddatz die Anrede „lieber gross-uwe“ durchsetzt – so spiegelt sich in der vertrauten Verkehrsform, zu der beide finden, eine während der Jahre ihrer Dauer intensiver werdende Freundschaft.

Doch erfährt diese Beziehung – auch dies lässt sich aus den Anreden ablesen – 1978 einen Bruch. „Wundersames Fritzchen“ überschreibt Johnson einen Brief, indem er Raddatz für eine Indiskretion verantwortlich macht. Raddatz wiederum spricht den langjährigen Vertrauten in seiner Erwiderung mit „Lieber Uwe Johnson“ an und fordert Johnson auf, sich bei ihm zu entschuldigen, weil er dessen Vorwürfe für ungerechtfertigt hält.

Johnson jedoch schweigt. Er hat in seinem an Raddatz adressierten Brief vom 19. August 1978 alles gesagt: „Wäre etwas an der Freundschaft, die Sie so gern beschwören, so hätten Sie eine solche Frage [ob Johnson von seiner Frau getrennt lebt] angehalten, statt sie in Gang zu bringen.“

In zwei – wahrscheinlich nicht abgeschickten Notizen – beklagt Raddatz nach dem Zerwürfnis die „Entfernung“ von Johnson, die „schmerzt“. Zu einer erneuten Annäherung zwischen ihnen kommt es nicht mehr. Die beiden Briefe vom August 1983, die den Briefwechsel beschließen, sind allein geschäftlicher Natur.

Raddatz unternimmt als Feuilletonchef der „Zeit“ einen Versuch und geht auf Johnson zu. Aber seine Anfrage, ob er nicht nach dem Erscheinen des vierten Bandes der „Jahrestage“ noch einmal nach New York fliegen will, um von dort zu berichten, wie er seiner „Figurenwelt und Umgebung“ erneut begegnet, beantwortet Johnson reserviert: „Sehr geehrter Herr Raddatz“.

Zwar nimmt er das Angebot an, da es ihm auch für sein neues Buchprojekt „Heute Neunzig Jahr“ sehr gelegen kommt, aber ansonsten ist der Ton seines Schreibens unterkühlt – so als hätte es die Freundschaft zwischen beiden nie gegeben. Im September 1983 fliegt er nach New York. Weniger Monate später, im Februar 1984, stirbt Uwe Johnson in Sheerness-on-Sea.

Der Briefwechsel zwischen dem Lektor, Kritiker und Autor Fritz J. Raddatz und dem – zu dem Zeitpunkt, als sich beide kennen lernen – berühmten Schriftsteller, ist ein in vielfacher Hinsicht bemerkenswertes Dokument. Einmal, weil zwei Intellektuelle als Personen der Zeitgeschichte zu erkennen sind – gerade auch in ihren unterschiedlichen Positionen: Anders als Raddatz, der sich in der 68er Bewegung engagiert, betrachtet Johnson diesen gesellschaftlichen Einschnitt eher distanziert.

Darüber hinaus gestattet der Briefwechsel Einblicke in den Literaturbetrieb mit seinen Gerüchten, Eitelkeiten und kleinen Eifersüchteleien. Ebenso zentral sind die von den Korrespondenzpartnern thematisierten Probleme, die das Handwerk des Schreibens betreffen. Es geht um Schreibanlässe und Schreibkrisen, und es werden Enttäuschungen erwähnt, wenn die Kritik partout nicht anerkennen will, in welcher Absicht ein Text entstanden ist – wobei häufig auch Johnson – so jedenfalls erscheint es Raddatz – die Arbeit des Freundes zu wenig würdigt.

Der hervorragend recherchierte und dokumentierte Band ist geeignet – neben dem Prosaautor – den Briefschreiber Uwe Johnson zu entdecken. Inzwischen vermag eine solche lohnenswerte und sich verzweigende Entdeckungsreise zu Briefpartnern wie Siegfried Unseld, Max Frisch und Hannah Arendt zu führen, deren Korrespondenzen mit Johnson in Einzelausgaben bei Suhrkamp vorliegen.

Nicht zu vergessen sind die Editionen mit Briefen von Uwe Johnson an den Leipziger Freund Jochen Ziem ("Leaving Leipzig next week“. Briefe an Jochen Ziem) und die beiden Briefe über zwei Reisen von 1972 und 1973, die Uwe Johnson 13 Jahre nach seinem „Umzug“ erneut nach Leipzig führten.

Über die Reiseeindrücke hat er zwei lange Briefe als Rechenschaftsberichte verfasst ("Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein. Rechenschaft über zwei Reisen"), die an seine Stuttgarter Freunde Klaus und Sabine Baumgärtner adressiert sind. Diese beiden ebenfalls von Erdmut Wizisla edierten Bücher sind im Transit Verlag erschienen.

Uwe Johnson: Der Briefwechsel. Liebes Fritzchen / Lieber Groß-Uwe.
Suhrkamp Verlag, August 2006
340 Seiten, 26.80 Euro