Abitur erster und zweiter Klasse?

André Schindler und Peter Wischnewski im Gespräch mit Andreas Müller |
Ab 2010 wird es in Berlin nur noch zwei Schulformen geben: die Sekundarschule, fusioniert aus Haupt-, Real- und Gesamtschule, sowie das Gymnasium. Beide führen bis zum Abitur. Während André Schindler vom Berliner Elternausschuss dies ein Sparprogramm nannte, bei dem es nur Verlierer gäbe, verteidigte Peter Wischnewski vom Landesschulrat die Pläne.
Andreas Müller: In Berlin soll es ab 2010, so hat es der rot-rote Senat im Dezember vergangenen Jahres beschlossen, nur noch zwei Schulformen geben: die Sekundarschule, fusioniert aus Haupt-, Real- und Gesamtschule, sowie das Gymnasium. Die Berliner Elternschaft, aber auch viele Lehrer sind nun sehr besorgt über drohende Konsequenzen des zweigliedrigen Systems, etwa einer Verschärfung der Zugangsbedingungen fürs Gymnasium, in deren Folge viel weniger Schüler als bislang die höhere Schule besuchen würden. Bei einem NC fürs Gymnasium, wie es ihn in Thüringen bereits gibt, hieße das in Berlin für etwa 20 Prozent aller Schüler, dass sie keine Schule erster Klasse besuchen könnten. Bis zu zehn Gymnasien droht dann die Schließung, damit rechnen Schulleiter, Verbände und der Landeselternausschuss. Ist das wirklich eine problematische Entwicklung, ein problematischer Ansatz, diese Reform oder etwas Sinnvolles? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit André Schindler, er ist der Vorsitzende des Berliner Landeselternausschusses, und Peter Wischnewski, Vorsitzender des Landesschulbeirats. Schönen guten Tag, Sie beide!

André Schindler: Hallo!

Peter Wischnewski: Schönen guten Tag!

Müller: Herr Schindler, was ist für Sie die wirkliche Problematik, das Tiefgreifende, was da falsch gegangen ist bei dieser Reform?

Schindler: Ja, diese Reform ist letztendlich ein Sparprogramm. Freuen kann sich nur der Finanzsenator, der neue Finanzsenator, die Schüler sind eher die Leidtragenden. Wenn wir mit den Gymnasiasten anfangen, das heißt mit den Schülern, die auf ein Gymnasium gehen wollen: Wir haben ja hier ein sehr liberales System. Jeder kann sich auf einem Gymnasium anmelden. Die letzten zehn Jahre belegen, dass von den Schülern, die eine Realschul-Empfehlung haben, also einen Notendurchschnitt von 2,5 und schlechter, 75 Prozent das schaffen, auf dem Gymnasium zu bleiben und dort auch Abitur zu machen. Und auf der anderen Seite der Reform haben wir die Hauptschüler. Die haben jetzt ein hervorragendes Schüler-Lehrer-Verhältnis von eins zu elf. Das gibt man auf, man wird dann Klassenfrequenzen haben 26, 27, 28, das heißt, um die Schüler kann man sich auch nicht mehr so individuell kümmern. Das heißt, wir haben eigentlich nur Verlierer.

Müller: Sie haben jetzt so einiges aufgezählt, ich will mal mit dem Begriff, den Sie ganz zu Beginn genannt haben, Sparprogramm anfangen. Wieso Sparprogramm?

Schindler: Aus zweierlei Hinsicht. Einmal haben wir natürlich jetzt dieses Schüler-Lehrer-Verhältnis bei der Hauptschule, das wird dann sozusagen aufgegeben. Das heißt also, ein Lehrer betreut dann doppelt so viele Schüler, da spare ich schon mal Lehrer ein. Aber was noch gravierender ist, der Senator plant die Sekundarschule auf 13 Jahre bis zum Abitur auszulegen. Wir haben zwölf Jahre im regulären Betrieb, um das zu erreichen, brauche ich 265 Stunden. Das bedeutet, von der siebten bis zur zehnten Klasse habe ich relativ viel Unterricht. Das brauche ich natürlich nicht mehr, wenn ich auf 13 Jahre gehe, ich spare also zwischen der siebten und zehnten Jahrgangsstufe enorm viele Stunden ein. Das sind Lehrerstunden. Ich habe nicht mehr so viele Schüler, die dann noch weitermachen, und das ist da, wo ich am meisten einsparen kann, und genau das wird der Senator tun.

Müller: Peter Wischnewski, Vorsitzender des Landesschulbeirats, Herr Schindler hat gerade eben angedeutet, das ist ein sehr liberales System in Berlin, was, wenn es um die Zugangsbedingungen fürs Gymnasium geht, zu liberal?

Peter Wischnewski: Das würde ich nicht unbedingt sagen. Allerdings haben wir in Berlin ja das Probehalbjahr und damit auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Schülern, die nach diesem Probehalbjahr das Gymnasium verlassen müssen. Und für diese Schüler ist das dann schrecklich. Denn erfahrungsgemäß, nicht nur auf die Realschule werden sie dann abgeschult, sondern bei vielen, dann geht es gleich durch bis auf die Hauptschule. Dieses traumatische Erlebnis, das müssten wir doch wohl unseren Kindern ersparen.

Müller: Das ist dann gegeben, wenn wir dann nur noch die Sekundarschule haben, die heißt dann halt anders. Aber sind da nicht die gleichen Kinder, die vorher auf der Haupt- oder Realschule waren - doch eher schon?

Wischnewski: Haben wir schon. Und der Vorschlag vom Landesschulbeirat ist ja, dass wir verstärkt in die vorschulische Bildung investieren müssen, damit wir solche problematischen Frühkarrieren, wie es an der Hauptschule heutzutage der Fall ist, nicht in so großer Zahl bekommen.

Müller: Ich habe ja immer so ein bisschen das Problem, wenn ich mir das anschaue, dass ich den Eindruck bekomme, es wird einfach nur ein System anders genannt, und schon scheinen die Probleme sich erledigt zu haben. Also dadurch, dass wir keine Hauptschule mehr haben, sind die problematischen Schüler und auch die problematischen Ausgangsbedingungen nicht weg - oder wie sehen Sie das?

Wischnewski: Das sehe ich auch so, und der Senator hat ja auch versprochen, dass die Bedingungen noch deutlich verbessert, also mehr Ressourcen reingesteckt werden als zurzeit in diesem System der drei unterschiedlichen Schularten, die zusammengefasst werden sollen, hineinkommt. Nun müssen wir ihn daran messen, ob er denn sein Wort hält.

Müller: In Thüringen hat man diesen, wenn man ihn dann wirklich so nennen will, NC, Numerus Clausus, eingeführt, um die Zugangsbedingungen zum Gymnasium zu erschweren. Und eigentlich hat man dort ganz gute Erfahrungen gemacht. Ist Thüringen so sehr anders als Berlin, Herr Schindler?

Schindler: Ja, Thüringen ist ein Flächenstaat, Berlin ist ein Stadtstaat. Thüringen hat eine ganz andere Situation. Wir haben hier in Thüringen auch ganz andere Zusammensetzungen der Lehrerschaft, da wurden viele Schulen letztendlich auch geschlossen, die gleichen Probleme wie in Brandenburg, weil einfach die Schüler nicht mehr da waren. Aus Thüringen ist man vor vielen Jahren eher weggezogen, jetzt hat sich das stabilisiert. Das ist eine andere Situation, das kann man so mit Berlin letztendlich überhaupt nicht vergleichen. Wenn sich Berlin vergleichen lässt, dann sicherlich mit einem Stadtstaat wie Hamburg. Und wir sehen überhaupt keine Veranlassung, hier am Zugang zum Gymnasium was zu ändern. Dieses Argument, Schüler wurden durchgereicht bis zur Hauptschule: In den letzten zehn Jahren waren von 120.000, 130.000 Schülern gerade mal vier, die tatsächlich nach dem Probehalbjahr sofort dann zur Hauptschule gegangen sind. Und ich erinnere dran, wir haben auch Schüler, die eine Hauptschul-Empfehlung haben, die aufs Gymnasium gehen, und jeder Vierte schafft das dort auch. Und gerade dieses System ermöglicht ja gerade dann Schülern, die eher aus bildungsfernen Häusern kommen, die aus Familien kommen, wo eben der Geldbeutel relativ knapp bemessen ist, es doch noch zu schaffen, auf ein Gymnasium zu kommen. Denn wir dürfen ja eins nicht vergessen: In der Grundschule werden Noten verteilt auch nach dem Status der Eltern, das haben wir immer wieder festgestellt. Je besser die Eltern situiert sind, desto besser sind auch die Noten. Und wenn ich dann auch noch ein Junge bin, habe ich es sowie schon schwerer an den Berliner Grundschulen, da ist die Notenstufe gleich noch mal ein bisschen schlechter. Das heißt also, gerade das sind Schüler, die dann letztendlich zu Verlierern werden.

Müller: Herr Wischnewski, was entgegen Sie dem?

Wischnewski: Wir oder der Senat plant ja nicht einen reinen Notendurchschnitt für den Zugang fürs Gymnasium, sondern eher so eine Mischform. Und wir setzen uns als Landesschulbeirat auch vehement dafür ein, dass es dann auch ein Probeunterricht oder Test gibt für die Schüler, die also den sicherlich nicht bei 2,0 liegenden Notendurchschnitt nicht erreichen, sodass es da also durchaus auch die Möglichkeit gibt, aufs Gymnasium zu kommen, wenn man nicht die entsprechenden Noten geschafft hat. Vor allen Dingen aber ist es ja so, dass auch die Sekundarschule, wie sie im Moment heißen soll, bis zum Abitur führt und wahrscheinlich auch …

Müller: Was ist das Abitur dann eigentlich noch wert, frage ich mich gerade.

Wischnewski: Da muss ich mal einen Irrtum aufklären. Das Abitur ist ja zum großen Teil jetzt, misst sich am Bildungsstandard, und wir haben ja auch zentrale Prüfungen, die könnten wir durchaus noch ausweiten, sodass dann wirklich das Abitur vergleichbar wäre am Gymnasium und auch an einer anderen Schulform. Wir haben ja auch heute Abitur an Gesamtschulen und Abitur am Gymnasium und Abitur an Oberstufenzentren.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit André Schindler, dem Vorsitzenden des Berliner Elternausschusses, und das war gerade Peter Wischnewski, der Vorsitzende des Landesschulbeirats über die Reform der Schule in Berlin. Wir haben gehört, dass es ein liberales System in Berlin ist, wir haben gehört, dass eine Menge Schüler es schaffen ans Gymnasium. Aber ich möchte Sie beide noch mal fragen: Ist es wirklich sinnvoll, diese Einrichtung, das Gymnasium, das früher mal eine Eliteveranstaltung war, um tatsächlich eine Elite heranzubilden, die dann ein Abitur macht, das für ein Studium dann reicht, und dieses Studium wird im Regelfall dann auch zu Ende geführt, dass das so aufgeweicht wird im Prinzip?

Schindler: Das wird nicht aufgeweicht. Wir haben doch jetzt die Situation, dass wir Schüler haben, die auf ein Gymnasium kommen, die machen ein Probehalbjahr und dann belegen sie dadurch in einem halben Jahr, dass sie das tatsächlich auch schaffen, dass sie das Niveau auf dem Gymnasium halten können. Und es wird doch dann keiner mehr abgeschult. Es ist ja hier ein Ammenmärchen, das der Senator von sich gibt, dass danach Abschulungen stattfinden. Wer das Probehalbjahr erst mal geschafft hat, der kommt mindestens bis zur zehnten Klasse und bleibt dann auf einem Gymnasium, wechselt an das Gymnasium, weil da die Leistungsfächer nicht angeboten werden oder geht auf ein Oberstufenzentrum. Aber wer das Probehalbjahr erst mal geschafft hat, der schafft dann auch letztendlich den Weg zum Abitur. Das belegen letztendlich die Zahlen. Alles andere, das sind nur wilde Geschichten. Und deshalb ist das Gymnasium nicht weniger wert. Denn schließlich stellen sich die Gymnasien der Herausforderung und sagen, wir nehmen den Schüler, wir können aus diesen Schülern was machen, wir passen uns dem Schüler an und wir bringen ihn zum Abitur, zum Zentralabitur, sodass er dann überall studieren kann und nicht, wie der Senator das will, dass sich der Schüler der Schule anpassen muss, sondern umgekehrt.

Müller: Herr Wischnewski, noch einen Satz von Ihnen dazu!

Wischnewski: Ja, also das sehe ich anders, denn wenn an beiden Schularten das Abitur möglich ist und an der einen Schulart eben der Zeitdruck höher ist, dann ist das für die Schüler, die etwas mehr Zeit brauchen, sicherlich ideal, wenn sie an einer anderen Schulform das Abitur machen können und sich dann dort etwas mehr Zeit lassen. Und es ist ja sicherlich nicht so geplant, dass dort weniger Unterricht erteilt wird und dass deshalb diese 13 Jahre notwendig sind, sondern mehr, dass die Schüler da mehr individuelle Betreuung brauchen, weil sie halt nicht so gut von Anfang sind und dadurch dann eben in 13 Jahren zum Abitur geführt werden. Wobei also durchaus die Möglichkeit besteht, bei entsprechenden Leistungen zu sagen, ich möchte es in zwölf Jahren machen, und gehe dann halt irgendwo an eine gymnasiale Oberstufe des Gymnasiums.

Müller: Peter Wischnewski, der Vorsitzende des Landesschulbeirats, und André Schindler, der Vorsitzende des Berliner Landeselternausschusses zur Reform und der Problematik dieser Reform des zweigliedrigen Schulsystems in Berlin. Vielen Dank an Sie beide!