Abgründe der bürgerlichen Kleinfamilie

Von Elske Brault |
Katja Brunner war 18, als sie "Von den Beinen zu kurz" schrieb, noch ganz dicht dran an der eigenen Kindheit. Ihr Text steigert gewöhnliche Kindheitserlebnisse ins Unfassbare. Am Anfang steht der Kleinfamilienalltag - später geht es um Inzest, Kindesmissbrauch und emotionale Verarmung.
Es ist ein Puppenspiel. Drei Schauspieler liegen wie achtlos hingeworfene Gliederpuppen auf dem Boden, mit merkwürdig verrenkten Armen und Beinen. Auch das Kind ist ein Püppchen im weißen Kleidchen, trägt hüftlange Wollzöpfe anstelle der Haare und ein Clownsgesicht, die Augen blau, der Mund rosa umschminkt, als habe die Kleine in die Farbentöpfe der Mutter gegriffen. Sie zerrt die Schauspielerpuppen über den Boden, setzt sie aufrecht hin, viel Energie braucht das kleine Wesen dazu, denn die Körper sind schwer. Harmlos ist dieses Puppenspiel und zugleich latent gewalttätig – darin ein Abbild der bürgerlichen Kleinfamilie, deren Abgründe in diesem Stück verhandelt werden.

Katja Brunner war 18, als sie "Von den Beinen zu kurz" schrieb, noch ganz dicht dran an der eigenen Kindheit. Und so steigert ihr Text ganz gewöhnliche Kindheitserlebnisse ins Unfassbare: Das Alleingelassenwerden im Streichelzoo, wer kennt es nicht, werden nicht jeden Samstag im Minutentakt in einem bekannten schwedischen Möbelhaus Eltern ausgerufen, die ihr Kind aus dem Spieleparadies abholen sollen? Da schreit ein Kind dann nach seinen Eltern, schreit nach dem Vater, und der Vater kommt und ist ein wenig unwirsch, weil das schreiende Kind ihm peinlich ist. Vielleicht sagt er wie im Text von Katja Brunner: "Memmen mag ich nicht." Und das Kind nimmt sich vor, dem Vater zu Willen zu sein und beim nächsten Mal nicht zu schreien.

Soweit ist alles Kleinfamilienalltag. Nur geht es hier ein bisschen weiter: "Die Väter haben einen da nicht mehr rausgenommen aus dem Streichelzoo, (...) die kamen nur ab und zu vorbei und nahmen sich ein Körperteil, das günstigste, das mit dem am meisten anzufangen war, der Papa ein Spaßfabrikant im Dienste seiner selbst streichelt das Körperteil, das ihm am besten gefällt."

Von Inzest ist die Rede, von Kindesmissbrauch, und Katja Brunner geht in ihrem Text der Frage nach, warum das Kind stumm und willig mitmacht, die Mutter die Augen verschließt, der Arzt nicht weiter nachforscht, als er bei der Fünfjährigen Scheidenpilz feststellt. Die womöglich grausamsten Passagen in ihrem Text sind die Rechtfertigungen des Vaters. Mit ähnlichen Worten verteidigt ein Ehebrecher seinen Seitensprung: Die Verführung lag eben greifbar nahe. Irgendwann ist es nicht mehr möglich, gegen die Lust anzukämpfen, egal wie verboten sie sein mag.

Unterbrochen wird das Konzert der Stimmen, werden die Erzählungen von Mutter und Vater oder die Schilderung des Arztbesuches durch kurze Märchen. In poetischen Bildern paraphrasieren sie, was in vielen Familien tagtäglich geschieht: Der Vater in seinem Arbeits- und Erfolgsdrang breitet sich aus, die Mutter zieht sich zurück, die Tochter versucht alles, um der emotionalen Verarmung entgegenzuwirken und mit ihrer kindlichen Liebe die Beziehung der Erwachsenen zu kitten. Von der seelischen Vergewaltigung zum körperlichen Übergriff ist es in diesem Drama nur ein kleiner Schritt.

Die Bühnenbildner Dirk Thiele und Mareike Hantschel haben für entsprechende Märchenelemente gesorgt: Da gibt es den Matratzenstapel aus der "Prinzessin auf der Erbse", fällt er um, verwandelt er sich in ein aus Pflastern zusammengesetztes Spitalbett. Die Wände sind mit menschengesichtigen Widderköpfen und maskulinen Engelsgestalten bemalt, auf dem zu hohen Sesselthron ist Schauspielerin Lisa Natalie Arnold tatsächlich "Von den Beinen zu kurz". Die weiß geschminkten Gesichter der Schauspieler, die grotesken Kostüme und unförmige, Kürbis große Maskenköpfe, sporadisch eingesetzt, unterstützen die märchenhafte Atmosphäre. Ginge es darum, schöne Bilder fürs Programmheft zu produzieren, könnte man diese Inszenierung als ausgesprochen gelungen bezeichnen.

Aber leider gibt es da noch einen Text, er gehört gesprochen, und er wird hier versaut. Regisseurin Heike Marianne Götze lässt schreien, wo ein Flüstern Gänsehaut erzeugen würde, zieht die grausamen Rechtfertigungen des missbrauchenden Vaters mit einem österreichischen Akzent ins Lächerliche, damit auch ja kein Zuschauer sich in Teilen damit zu identifizieren braucht, streicht wesentliche Passagen, wiederholt Überflüssiges um eines hübschen Klanges willen, der mit dem Inhalt nichts zu tun hat. Wenn Oscar Olivo, einer der vier Darsteller, in anderen Inszenierungen deutsch mit starkem Akzent spricht, ist das ein schöner Verfremdungseffekt. Hier aber versteht man den Text schlichtweg nicht mehr. Und wozu Verfremdung bei einem Stück, dessen wesentliche Leistung darin besteht, ein so fremd und außerhalb unser aller Lebenswirklichkeit angesiedeltes Geschehen wie Kindesmissbrauch zurückzuholen in unser persönliches Erleben?

Am Ende klatschten die in der zweiten Theaterstunde wie komatisiert wirkenden Zuschauer begeistert, "Hammer" sagte eine Frau neben mir. Demnach war das Koma Konzentration gewesen. Autorin Katja Brunner, mittlerweile 21, verbeugte sich strahlend und warf mit Elan die hüftlangen roten Locken zurück: Sie ist dem Puppenkind auf der Bühne nicht unähnlich. Regisseurin Heike Marianne Götze konnte ob ihres großen Babybauchs nur noch den Kopf neigen. Ein versöhnliches Schlussbild: Der Text des Schweizer Sprachkobolds wird hoffentlich an vielen anderen Bühnen in Deutschland besser inszeniert.