Abgeschoben und auf sich gestellt

Von Alexander Göbel · 02.02.2012
Anfang der Neunziger floh die Familie Kpakou vor einer brutalen Diktatur aus Togo nach Deutschland. Hier begann sie ein neues Leben, das im Herbst 2006 jäh endete: Nach mehr als 13 Jahren in der Bundesrepublik wird die Familie nach Togo zurückgeschickt.
Ja...Früher hat hier ein kleines Mädchen gewohnt, das hat hier drin sogar geduscht. Aber die Leute haben auch hier reingepisst, das war wirklich widerlich, die Kleine darin duschen zu sehen...

Achu schüttelt den Kopf. Sie kann noch immer nicht glauben, dass sie hier lebt. Hier leben muss. In einer heruntergekommenen Baracke mitten in Lomé, im Dreck und Staub der Hauptstadt von Togo, Westafrika. Achu ist 26 und teilt sich eine winzige Zweizimmerwohnung mit ihren Schwestern Ami und Celestine. Seit sie endlich Matratzen haben, müssen die Mädchen wenigstens nicht mehr auf dem nackten Betonboden liegen. Alles andere findet draußen statt: kochen, essen und waschen. Dusche und Toilette gibt es nur im grauen, unverputzten Innenhof, fließendes Wasser nur kalt - und über den einzigen Wasserhahn für alle Mieter des Hauses. Jeden Tag müssen die Kpakou-Schwestern ihr Wasser mit Eimern zur großen Tonne vor ihrer Wohnung schleppen, mit dem teuren Strom sind sie sehr sparsam.

Insekten sind überall. Vor allem Ameisen. Du legst was Essbares hin, Du hast Ameisen drauf. Weiß gar nicht, woher die kommen. Mittlerweile kommen wir damit klar. Und die Mücken....manchmal stechen die dich.
Man muss hier Ordnung halten. Sonst hat man sofort Kakerlaken. Zum Beispiel da unter dem Haufen Klamotten, den die Ami da hat...Da sind welche. Und die fliegen auch hier. Ja, die haben Flügel. Siehst Du – fliegende Kakerlaken!

Seit fünf Jahren leben die drei Schwestern allein in Togo. Ein hartes, afrikanisches Leben in Armut – und in unerträglicher schwüler Hitze. Dieses Leben wollten sie nie.

Man muss auch erst mal klarkommen, ne? Der Herd, auf dem wir gekocht haben, das Wedeln für das Feuer, dass es keine Spülung gibt, wenn Du auf die Toilette gehst./ Alles ist Kraftaufwand. Wasser schleppen, Feuer machen, alles kostet Kraft und dauert. Man kann nicht einfach einen Herd anschmeißen. Bis das Feuer brennt, dauert es, dann kochst Du, nach zwei Stunden kannst Du essen, und nach fünf Minuten bist Du fertig mit dem Essen.

Achu, Ami und Celestine: drei Kinder der Familie Kpakou. 13 Jahre waren sie in Deutschland, mit ihren Geschwistern und ihren Eltern. Zu elft unter einem Dach – im beschaulichen Cölbe bei Marburg, in der Schulstraße 8. Sie haben Deutsch gesprochen, deutsch gelebt. Waren glücklich. Bei den Behörden würde man sagen: integriert. Sie haben Kindergärten und Schulen besucht, auf Nachbarskinder aufgepasst, Zeitungen ausgetragen, Praktika gemacht, Freunde, Liebesbeziehungen und Träume gehabt, wollten Zahnarzthelferin werden, Hotelfachfrau oder Fremdsprachenkorrespondentin. Afrika kannten die Kpakou-Kinder eigentlich nur aus dem Fernsehen, sagt Celestine.

Früher haben wir gedacht, Togo, das ist unsere Heimat, da kommen wir her. Unsere Eltern haben uns gesagt, dass wir aus Togo kommen. Aber das war auch alles, dass wir eben aus Togo kommen. Aber dadurch dass wir abgeschoben wurden und wir gezwungen sind, hier zu leben, ist Togo zu einem Albtraum geworden. Togo hat nichts Gutes für uns.

1993 flieht Christopher Kpakou aus Lomé in die Bundesrepublik – er hatte sich in der Opposition gegen den Diktator Gnassingbé Eyadéma engagiert. Eyadéma hatte Togo fast 40 Jahre mit harter Hand regiert und aus der ehemaligen deutschen und französischen Kolonie einen brutalen Polizei- und Überwachungsstaat gemacht. Wegen der Menschenrechtsverletzungen setzte Deutschland lange Zeit seine Entwicklungshilfezahlungen aus. Nach Eyademas Tod putschte sich sein Sohn Faure Gnassingbé an die Macht – hunderte Menschen starben, zehntausende mussten fliehen, noch heute ist er Präsident.

Als wir hier angekommen waren, standen wir hier am Flughafen – sechs Kinder, und wir kannten niemand. Und dann kommt so ein Opa und sagt: Ich bin Euer Onkel, kommt mit.... Wir haben nur geheult und konnten nicht klar denken. Dann sind wir ins Auto gestiegen und die Straßen entlang gefahren. Wir haben kleine Kinder gesehen, die Sachen auf dem Kopf tragen, und wir dachten, wir enden auch so. Wir haben wochenlang nur geheult. Wir lebten bei unserem Onkel in einem winzigen Zimmer. Es war heiß, die Moskitos haben uns gebissen, das war furchtbar. Bis heute kommen wir nicht wirklich damit klar, wenn wir manchmal nachdenken über die Abschiebung.

"Welcome to New York" habe ein begleitender Polizist gesagt, als sie in Lomé ankamen – mit breitem Grinsen, erinnert sich Achus Schwester Ami. Noch heute kocht eine verzweifelte Wut in ihr hoch, wenn sie daran denkt.

Man kann doch nicht ein Menschenleben wie ein Tierleben behandeln. Sogar ein Tier hat es besser. Ich weiß nicht, was ich da verbrochen habe, ich habe keine Bank ausgeraubt, ich habe nichts getan, weswegen ich so behandelt werden sollte. Das alles prägt mein Leben – es macht mich zu dieser frustrierten, enttäuschten Person, die ich eigentlich nicht bin. Ich bin aber dazu geworden.

Die Mutter der Familie lebt im benachbarten Ghana, mit Amis Brüdern Panajotis und Richie, mit der zweitältesten Schwester Gertrud und deren Töchterchen Naomi. Sie alle kommen mit der englischen Sprache dort besser zurecht. Gertrud hat in Ghana Arbeit als Schneiderin gefunden. Der 18. September 2006, sagt Ami, habe in allen tiefe Spuren hinterlassen.

Die können das Wort Polizei bis heute nicht hören. Wenn man das sagt, fangen sie an zu heulen. Sie haben schlechte Träume. Meine Mutter kommt ja bis heute damit nicht klar. Ihr Mann ist noch da drüben, und dem geht es wieder schlecht. Meine Mutter ist physisch und psychisch total am Ende. Das ist nicht mehr unsere Mutter, sie ist nicht mehr mit uns, sie ist in einer ganz anderen Welt, sie ist kalt und abweisend und ganz anders als früher, als alle zusammen waren und lachen konnten. Das macht uns fertig, dass unsere Mutter nicht mehr unsere Mutter ist.

Die Familie ist zerrissen und inzwischen über drei Kontinente verstreut – Amis Schwester Belinda ist in Nigeria verheiratet, Ruth, die Älteste, lebt in den USA. Der Vater ist als einziger in Deutschland geblieben. Nicht wegen seiner politischen Verfolgung. Sondern weil er sterbenskrank ist. Er leidet an Bluthochdruck und schwerem Diabetes. In Afrika würde er ohne die vielen Medikamente nicht überleben.

Wir versuchen das jetzt durchzustehen und meine Mutter aufzubauen, es wird gehen.... aber es geht nicht. Mein Vater braucht meine Mutter, sie waren ein Team, klar, mit anstrengenden Kindern, aber sie waren ein Team. Und jetzt ist jeder für sich, jeder ist verletzt, das Vertrauen zueinander schwindet, und das Leben ist wie eine Seifenblase geplatzt. Es ist wirklich so.

Ami und ihre Schwestern haben ihre deutschen Berufsträume begraben. Drei Jahre lang haben die Mädchen in Togo eine Schneiderlehre gemacht. Schneiderinnen gibt es in Afrika wie Sand am Meer – aber es muss weitergehen. Irgendwie. Ein treuer Kreis von Marburger Freunden und Unterstützern finanziert das Leben der Mädchen seit der Abschiebung, so gut es geht. Zahlt das Geld für Miete und Essen, die Arztbesuche, die Ausbildung und sogar für die mechanischen Nähmaschinen. Die rattern im Haus der Mädchen in Lomé auch abends noch. Dann nähen sie Kleider, die sie vielleicht verkaufen können. Das Nähen lenke vom Elend ab, sagt Achu. Aber glücklich macht es sie nicht.

Ich male lieber, als auf der Nähmaschine herumzumachen. Ich wollte gerne Designerin werden. Selbst was ausdenken und kreieren, das wäre mein Ding. Aber an der Nähmaschine sitzen den ganzen Tag – das geht in den Rücken. Und am Abend tun die Augen weh – das Augenlicht wird schlechter, man kriegt den Faden kaum noch in die Nadel rein. Da musst Du Dich so überanstrengen mit den Augen.

Eine völlig andere Mode ist das hier. Alles so bunt, ich mag die Stoffe nicht so – ich trage sie nur zur Kirche, nur weil alle anderen das tragen. Wenn man hier europäische Klamotten trägt, reden die Leute und sagen, guck mal die da an, die kommt aus Deutschland und hält sich für was Besseres...

Überhaupt leben die Mädchen nach der Devise: Bloß nicht auffallen. Sie sprechen meistens Deutsch, mischen aber oft mit Ewe, einer der Hauptsprachen in Togo. Damit die Leute nicht noch misstrauischer werden. Angekommen sind die Kpakou-Mädchen in ihrem Geburtsland Togo bis heute nicht. Auch mehr als fünf Jahre nach der Abschiebung fühlen sie sich noch immer einsam, isoliert und fremd. Sie spüren, dass man sich hier - wenn überhaupt - nur für sie interessiert, weil sie aus Europa kommen. Echte afrikanische Freunde sind kaum zu finden. Und der Mann fürs Leben schon gar nicht.

Ist ja immer so – wenn Leute aus Deutschland kommen, denken alle, die müssen reich sein, und sie haben Geld. Am Anfang waren sie sehr nett zu uns, aber dann haben sie gefragt – wann geht ihr denn wieder? Denn nach Togo kommt man, und man geht wieder. Natürlich haben sie gehofft, dass wir sie mitnehmen. Als sie gemerkt haben, dass wir nicht gehen, dann waren sie ganz von allein wieder weg.

Celestine stellt sich taub. Tut so, als spüre sie die großen Erwartungen der Afrikaner nicht. Sie ignoriert die kalkulierte Anmache – und auch die Beschimpfungen. Oft muss sie sich anhören, sie hätte doch einen Deutschen heiraten und mit ihm Kinder bekommen sollen, um in Deutschland zu bleiben. Aber das wäre für sie und ihre Schwestern nicht in Frage gekommen. Sie wollten immer aus Liebe heiraten und nicht für einen deutschen Pass. Doch in Togo gelten die Kpakous genau deshalb als Verlierer. Gnadenlos zeigt man mit dem Finger auf sie. In Lomé nennt man sie Damboué – die Weggeworfenen. Afrika kann grausam sein.

Man hat einfach die Einstellung in Togo – oder überhaupt in Afrika – dass man reich sein muss, wenn man aus Europa kommt. Und es ist ja auch so – wer hierher zurück kommt, hat Geld, ein Auto, ein Haus, und lebt gut. Aber wir haben erst vor kurzem Betten gekauft – und die Leute lachen über uns und sagen: Guck Dir die mal an, die Weggeworfenen, lassen sich abschieben, haben nichts erreicht, die Dummköpfe. Und deswegen nähern wir uns diesen Leuten nicht, weil wir nicht verletzt werden wollen.

Für Ami ist es noch viel schlimmer zu ertragen, dass ihr Land, Deutschland, sie abgeschoben und ihre Familie zerstört hat, dass sie nun in einem Land leben muss, das sie für unterentwickelt hält. In dem sich alles nur ums Geld dreht. In dem ständig der Strom ausfällt. Mit Mitte 20 ist Ami heimatloser als je zuvor. Sie will an nichts mehr glauben. Auch nicht mehr an Einigkeit und Recht und Freiheit. Recht, sagt sie resigniert, sei sowieso etwas anderes als Gerechtigkeit.
Das ist ein anderes Leben, und es ist nicht das Leben, das ich leben will. Es ist wie ein Gefängnis, Du bist blockiert. Du hast keine Träume und keine Wünsche, ich kann nicht das tun, was ich will, nicht das sein, was ich will. Du hast in einer Zivilisation gelebt, wo Du dachtest, all das würde gehen. Und hier geht nichts. Und das macht Dich schon fertig. Ich bin enttäuscht, von dem Land, das ich immer noch meine Heimat nenne... (weint)... dass sie mich nicht wollen.

Über 100.000 Euro hat diese Abschiebung den deutschen Staat gekostet – für Flüge, begleitende Beamte, Gefängnisaufenthalte. Damit wenigstens Kpakous Ehefrau und zwei minderjährige Kinder nach Deutschland kommen können, müsste Kpakou nach der Bleiberechtsregelung 38.000 Euro aufbringen. Nur dann wäre eine so genannte Entfristung der Abschiebung möglich.

Das heißt: Wird das Geld nicht gezahlt, sieht sich diese Familie nie wieder! Wie soll die Familie 38.000 Euro aufbringen, in Togo, wenn kein Beruf da ist, wo man nur im informellen Bereich arbeiten kann, und wo der Vater in Deutschland so schwer krank ist, dass er erwerbsunfähig ist?

Auf jeden Fall haben Ami, Achu, Celestine und die anderen Kpakous ihre Verbindung zur Heimat nie gekappt. Die Heimat der "Weggeworfenen" heißt Deutschland. Und diese Weggeworfenen geben weiter ihre Bestellungen auf – für den nächsten Besucher, der nach Lomé kommt. In ihre staubige Baracke mit den alten Nähmaschinen und dem Klo auf dem Hof.

Also: Was wir gerne mitgebracht hätten - ich zitiere aus der Email: Salami, Käse, Leberwurst, Frischkäse, Marmelade und H-Milch, Chips, Kekse, Gummibärchen, Ritter Sport, und M&Ms, gelbe und rote Verpackung.