Abgebaggert - und dann?

Von Claudia van Laak · 30.08.2005
Für die 4000 Einwohner des Dorfes Bükgen in der Lausitz kam die Wende ein Jahr zu spät. Sie wurden 1989 umgesiedelt, die meisten von ihnen in ein Plattenbaugebiet nach Großräschen. Die Braunkohlebagger machten genau am Rande des Dorfes halt - ein halber Straßenzug blieb erhalten. Die unter Denkmalschutz stehenden Villen erinnern an eine prosperierende Gemeinde, die von der Landkarte verschwunden ist. Nach der Umsiedlung löste sich die Dorfgemeinschaft auf. Ein Regisseur aus der Schweiz belebte das Zusammengehörigkeitsgefühl jetzt wieder neu. Er inszenierte mit einem Teil der früheren Dorfbewohner ein Dokumentar-Theater auf dem Grund der Braunkohlegrube - so wurde Bükgen wieder lebendig.
Das zweigeschossige, lang gestreckte Wohnhaus aus dem Jahr 1923 steht schon einige Jahre leer. In den Dachrinnen wächst Gras, die Fenster im Erdgeschoss sind zugemauert, die Scheiben im oberen Stockwerk fast alle zerschlagen. In der Mitte über dem Eingang ein Bergarbeitersymbol: Hammer und Eisen. Eigentlich sollte das frühere Ledigenwohnheim der Bergbaugesellschaft Ilse AG genau wie hunderte anderer Gebäude des Ortes Bückgen der Braunkohle zum Opfer fallen. Die Wende hat es gerettet - quasi in letzter Minute wurde die Tagebaukante verlegt, vier denkmalgeschützte Gebäude konnten der Nachwelt erhalten werden.

Gespräch/Begrüßung: "Pünktlich wie immer Frau Wiedemann, guten Tag, ich grüße Sie Frau Schulz, mit dem Fahrradle."
Vor dem früheren Ledigenwohnheim und späteren Braunkohle-Institut der DDR steht eine Gruppe ungewöhnlich gekleideter Leute. Einer von ihnen trägt eine dunkelblaue Feuerwehruniform samt Mütze mit DDR-Emblem, eine ältere Dame einen bunten Strohhut, ihre Nachbarin ein Kopftuch und zwei Schürzen übereinander. Sie zeigen sich gegenseitig Fotos, reden wild durcheinander.

Langheinrich: "Wenn die Wende nicht gekommen wäre, oder zwei Jahre früher gekommen wäre, dann stünde Bückgen heute noch da, genau, dann wäre keiner auf die Idee gekommen, die wunderschönen Klinkerbauten abzureißen, wenn man sich das heute mal vorstellt, so herrliche Ziegelbauten, das musste alles weg."

Die dunkelblaue Uniformjacke ist Karl-Heinz Langheinrich mindestens zwei Nummern zu klein, sie spannt über dem Bauch. Die in der Sonne glitzernden Orden gleichen den kleinen Schönheitsfehler aus. Bester Feuerwehrmann im Bezirk Cottbus, bester Maschinist und Gerätewart, Abzeichen in Gold, dazu die Bronze- Silber- und Goldmedaille für 10, 25 und 30 Jahre Mitgliedschaft in der Freiwilligen Feuerwehr. Der groß gewachsene, grauhaarige Mann wedelt mit einem Stapel Schwarz-Weiß-Fotos in der Luft herum. Sie zeigen Bückgen im Jahr 1988, kurz vor dem Abriss.

Langheinrich: "Das war ein Teil von dem Ort, hier habe ich selber mal gewohnt, das war unsere Schule, das ist eine Aufnahme von der Kirche, so sah das aus, als ob der Krieg gekommen war."

Bückgen war ein Ort, der durch die Kohle reich wurde. 4000 Einwohner, eine Schule, ein Schwimmbad, fünf Gaststätten, zwei Parks, die Verwaltung des Braunkohlenkombinats, eine evangelische Kirche, zwei Klinkerwerke. Die Kohle hat's gegeben, die Kohle hat's genommen, sagt man hier in der Lausitz.

"Wo die ersten Häuser leer standen, wie waren ziemlich bis zum Schluss da, als rundherum alles leer war und man zur Arbeit fuhr, man wusste ja nicht, wenn man wiederkam, ob noch alles dastand, es wurde geraubt bis zum geht nicht mehr."

Ein kleiner schmaler Mann mit kurzen grauen Haaren stellt sich vor die Gruppe und stoppt den Redefluss der Leute, die vor 15 Jahren ihre Heimat verloren haben und immer wieder davon erzählen wollen. Er ist der Regisseur, sie sind seine Schauspieler.

Montalta: "Herr Pfeiffer, würden Sie bitte zu uns stoßen, Herr Klaus, kommen Sie bitte näher, So (klingeling), ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit."

Jörg Montalta ist ein Schweizer, der in Berlin lebt. Dozent, Coach, Trainer, Berater, Regisseur, steht auf seiner schlichten handgemachten Visitenkarte. Was ihn ausgerechnet in die Lausitz verschlagen hat? Alles begann mit einer Wanderung durch die stillgelegte Grube.

Montalta: "Da ging man einen Teil des Wegs mit geschlossenen Augen, und da gab's einen alten Mann mit einer dicken Brille, der sofort lossprudelte, da stand die Kirche, da war das Schulhaus, da war ich von den Socken, und da ist mir erst durch diese Rückmeldung klar geworden, dass wir unterhalb eines abgebauten Ortes gingen."

Jörg Montalta hatte eine Idee. Wie wäre es, wenn man am authentischen Ort, am Grund der Grube, Bückgen im Geiste wiederauferstehen ließe? Wenn man seine früheren Bewohner Geschichten und Geschichte des Ortes erzählen ließe?

Montalta: "A für die Menschen selber, B für die Kinder und Kindeskinder und vor allem für die Menschen von außen, weil es ist ein Urphänomen ist, vertrieben zu werden, seine Heimat zu verlassen, wenn man so auf den Globus guckt, es gibt viele Orte, wo das stattfindet."

Musik (Bergarbeiterchor Brieske): "Ich heiße Sie hier im Kreise willkommen, mein Name ist Herbert Krüger, ich bin 1931 in Bückgen geboren, habe 57 Jahre in Bückgen gelebt, bin also ein Ur-Bückgener."

Musik (Bergarbeiterchor Brieske): "Ich grüße Euch, mein Name ist Christa Wiedemann, ich bin 67 Jahre alt und habe 58 Jahre in Bückgen gelebt."

Christa Wiedemann traut sich nicht so recht, frei zu reden. Am Tag zuvor hat sich die betagte Rentnerin die ebenfalls betagte Schreibmaschine ihres Bruders ausgeliehen und ihren Text mit zwei Fingern auf ein vergilbtes Blatt Papier getippt. Welche Geschäfte es in Bückgen gab, dass die Mädchen in der Schule den Lehrerstock über die Finger, die Jungs über das Hinterteil bekommen haben und warum das Ledigenheim im Volksmund Millionenbau hieß.

Wiedemann: "Das Ledigenheim, da hat meine Mutter immer erzählt, dass die Ledigen, die damals eingezogen sind, die haben die Räume mit den Geldscheinen von der Inflation tapeziert, Das hat uns unsere Mutter immer erzählt."


Eberhard Roick erzählt die Geschichte der Evangelischen Kirche in Bückgen. Vom Großbrand 1949, der nicht gelöscht werden konnte, weil ein Kommunist und Kirchenhasser zuvor das Wasser abgedreht hatte. Vom letzten Gottesdienst vor dem Abriss im Jahr 1987. Nur die Glocken, die Orgel und das Altarbild konnten gerettet werden, alles andere wurde dem Erdboden gleichgemacht. Eberhard Roick hat auf seinem Schoß einen alten Kassettenrekorder und drückt auf "Start".

Roick: "Das waren die Glocken unserer Kirche im Abrissgebiet, der evangelischen Kirche in dem Ort Grube Ilse-Bückgen, 1987 war der letzte Gottesdienst, der ist durchgeführt worden bevor der Abriss war, und das ist eine Aufnahme davon."

Hildegard Bese erzählt die Geschichte der Klinkerwerke in Bückgen. 30 Jahre lang hat sie dort in der Ziegelei Schwerstarbeit geleistet. Zu ihren Requisiten gehören die alten Lederlappen, die sie sich damals als Schutz vor Verletzungen um die Hände gewickelt hat.

Bese-Montalta-Dialog: "Ich heiße Sie herzlich willkommen, ich heiße Hildegard Bese und bin 80 Jahre alt (Moment, Frau Bese, das ist nicht Ihr Kostüm, wo ist Ihr Kostüm?). Ich habe eine alte Jacke an, die hatten wir auch immer an auf dem Platz."

Jörg Montalta gibt sich nicht zufrieden, mimt den strengen Regisseur. Aber Frau Bese, sagt er, so eine Leopardenbluse, wie sie sie jetzt tragen, die hatten sie bestimmt nicht bei der Arbeit in der Ziegelei an.
Die Stimmung ist gut unter den betagten Laienschauspielern, vor den Augen und Ohren der Zuschauer entsteht das lebendige Bild eines untergegangenen Dorfes, einer längst vergangenen und vielleicht bald vergessenen Zeit. Es wurde schwer gearbeitet, bescheiden gelebt, aber auch gut gefeiert. Vor allen Dingen: Es existierte ein Zusammenhalt unter den Bückgenern, eine Gemeinschaft. So erzählen sie es zumindest. Realität oder nachträgliche Beschönigung? Regisseur Montalta:

"Dieses ganze Gemeinschaftsgefühl ist auseinander gefallen. Ein Mann sagt, ich habe meine Frau verloren, da kam der Bäcker, da kamen Freunde, Nachbarn, kann ich dir helfen in der Notsituation, und das sei heute ganz anders. Das Ganze ist vollkommen auseinander gebrochen, nur noch jeder für sich."

Langheinrich: "Ich sage, ein Krieg ist gar nichts gewesen dagegen, wiederum muss ich sagen, es war unser Arbeitgeber gewesen, wir hatten das Geld in der Kohle verdient..."

Wie viele ehemalige Bückgener wohnt Karl-Heinz Langheinrich heute in der Plattenbausiedlung Großräschen-Nord, dort, wo die Straßen nach verdienten Kommunisten benannt sind. Clara-Zetkin-Weg 11, vierter Stock eines fünfgeschossigen Mietshauses. Die Bückgener mussten ihr gewachsenes Dorf gegen eine gesichtslose Neubausiedlung tauschen, für die meisten nicht leicht zu verkraften.

Wenn der 62-Jährige aus dem Fenster seiner Plattenbauwohnung blickt, sieht er – andere Plattenbauten. Kein Wunder, dass er lieber in die Betrachtung des Vergangenen versinkt.

Langheinrich: "Die Kohle hat's gegeben, die Kohle hat's genommen."


Die Bückgener hatten wirklich Pech – ihr Dorf wurde zu einem falschen Zeitpunkt geschleift. Wäre die Wende ein wenig früher gekommen, nicht nur vier denkmalgeschützte Häuser, vielleicht das ganze Dorf hätte vor dem Abriss gerettet werden können. Wäre Bückgen erst nach der Wende der Braunkohle zum Opfer gefallen, auch dann hätten es die Bewohner besser gehabt. Angefangen von Klagemöglichkeiten vor den Verwaltungsgerichten bis hin zu höheren Entschädigungen und einer umfassenden Betreuung beim Umzug. Karl-Heinz Langheinrich ist neidisch und grämt sich umso mehr über seine verlorene Heimat.

"Es war schon ganz schön hart gewesen, vor allen Dingen, wenn ich jetzt sehe, was die Gemeinden, die jetzt abgebaggert werden, was die im Verhältnis kriegen und was wir gekriegt haben, wir haben ja gar nichts gekriegt."

Zum Beispiel Hornow: Die Dorfbewohner sind vor einigen Jahren fast komplett in das etwa zehn Kilometer entfernte Neu-Hornow bei Forst umgesiedelt worden. Eine neue Kommune mit Kirche, Dorfgemeinschaftshaus, Teich und Gaststätte ist entstanden, der Friedhof wurde komplett umgebettet. All das großzügig finanziert vom Energiekonzern Vattenfall, der auch ein Betreuungsbüro in Neu-Hornow eingerichtet hat. Detlev Dähnert ist bei Vattenfall für die Umsiedlungen zuständig.

Dähnert: "Einen Sack Geld auf den Tisch zu stellen und zu sagen, macht mal, das ist für uns überhaupt nicht der Weg, zu einem Ergebnis zu kommen. Letztendlich müssen wir ja nach der Umsiedlung der Ortschaft auch in der Region weiter Bergbau betreiben, wir müssen auch den Umsiedlern weiter in die Augen schauen können und auch den Menschen in der Region."

Von Bückgen sind nur vier denkmalgeschützte Häuser übrig geblieben, eines davon Sitz der Geschäftsstelle der Internationalen Bauaustellung Fürst-Pückler-Land, kurz IBA. Im nächsten Jahr beginnt die Flutung der Grube, dann wird sie Teil sein der Lausitzer Seenlandschaft, in einigen Jahren das größte zusammenhängende Seengebiet Europas.

Roick: "Was ja eigentlich das große Glück ist, nach dieser ganzen Tragik, dass diese Ecke hier stehen geblieben ist, das war ja der Grundstein für die IBA und das hat uns ja aufgewertet als Ort, und deswegen finde ich, die ganze Tragik ist zwar da, aber man kann sie gut überwinden, wenn man an das denkt, was jetzt läuft."

Eberhard Roick war früher Hauptingenieur im Tagebau. Er hat sich frühzeitig damit abgefunden, seinen Geburtsort unter seiner eigenen Leitung abbaggern zu lassen. Einsicht in die Notwendigkeit. Trotzdem fällt es ihm schwer, klare Worte zu fassen.

Roick: "Dass ich nun meinen eigenen Geburtsort, denn ich war ja in dem Ort geboren, das war schon ein bisschen… Ich konnte ja nun nicht sagen, ich mache hier nicht mehr mit oder so, geht ja gar nicht."

Irmgard Schulz zeigt keine Einsicht in die Notwendigkeit. Die 71-Jährige geht jeden Tag an der Tagebaukante spazieren und blickt hinunter in die Grube, dorthin, wo früher ihr Heimatort stand. Die gigantischen Bagger, die die Erdmassen hin und her bewegen, um die Grube für die Flutung vorzubereiten, sie sehen von oben aus wie Spielzeugautos.

Schulz: "Wenn man hier oben so steht, die Erinnerung, man kann das nicht so überwinden, und dann stehe ich manchmal lange und dann gucke ich und dann fällt einem so die ganze Jugend ein und was man da oben erlebt hat. Es hätte nicht alles weg gemusst. "

Irmgard Schulz hat sich spontan dazu bereit erklärt, beim Theaterprojekt von Jörg Montalta mitzuwirken. Unser Heimatort ist verloren, sagt sie, unsere Geschichten sollen nicht verloren gehen.

Schulz: "Ich hoffe, dass das mal nicht untergeht, also dass die nachkommende Generation mal sieht, dass wir kein Zuckerschlecken gehabt haben. Man hat sich so alleine gefühlt, wie als wenn man eine Familie auseinander reißt."

Durch die Arbeit am Theaterstück "Alles gewonnen, alles verloren" sind sie wieder miteinander ins Gespräch gekommen, die früheren Bückgener, die sich aus den Augen verloren hatten. Regisseur Montalta hofft, dass die Theaterarbeit weiterwirkt. Dass vielleicht eine neue Gemeinschaft entsteht, gespeist aus den alten Geschichten.

Montalta: "Und ich habe eine Medaille bekommen von einem Teilnehmer, der hat mir eine DDR-Medaille gegeben, Verdienst am Kollektiv, und hat so augenzwinkernd gesagt, bei uns nannte man das Kollektiv, Sie haben wieder ein Kollektiv erschaffen durch diese Arbeit."