Ab in den Matsch

Kinder sollen in den Matsch und raus auf Straßen, Höfen, Wiesen und in die Wälder. Das fordert der Naturphilosoph Andreas Weber in seinem neuen Buch. Darin warnt er eindringlich vor den Folgen um sich greifender Indoor-Kindheiten.
Haben Sie Kinder im Grundschulalter? Erlauben Sie ihnen, sich kilometerweit vom Haus zu entfernen, hohe Buchen zu erklimmen oder mit Freunden eine Schlammschlacht am Rande einer gefährlich in die Tiefe stürzenden Baugrube auszutragen? Was bis in die 1970er-Jahre gang und gäbe war – dass Kinder allein draußen spielen, und zwar dort, wo sie es wollen -, treibt Eltern heute den Angstschweiß auf die Stirn. Haltlos wuchern die Befürchtungen: Der Sprössling könnte sich überfordern oder verletzen, von einem Auto erfasst oder einem Sexualverbrecher verschleppt werden.

In seinem neuen Buch "Mehr Matsch" warnt der Naturphilosoph Andreas Weber eindringlich vor den Folgen um sich greifender Indoor-Kindheiten: Obwohl die realen Gefahren nicht zugenommen haben, sind Kinder heute aus Straßen, Höfen, Wiesen und Wäldern so gut wie vertrieben. Eingezäunt und überbehütet verlieren sie den Kontakt zu ihrer natürlichen Umwelt und müssen schon im jüngsten Alter die Dramen der Erwachsenengeneration am eigenen Leib miterleiden: Sie werden dicker, gestresster und einsamer.

Dabei brauchen Kinder Natur wie die Luft zum Atmen, zeigt der Autor anhand vieler Studienergebnisse. Schon Säuglinge wenden sich von Plastikspielzeug ab, wenn ein lebendiges Wesen, gleich ob Mensch oder Maus, in seinen Gesichtskreis tritt. Bindungsfähigkeit, Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude – alles das entwickelt sich im Umgang mit Büschen und Bäumen, Krabbeltier und Flussufern.

Auch wenn er die unvermeidlichen Ausflüge in die Hirnforschung bedient (und mit dem Hirnforscher Gerald Hüther betont, dass das Gehirn vor allem ein Sozialorgan ist), legt Andreas Weber doch weit mehr vor als ein kinderpsychologisches Sachbuch. Es ist ein Manifest, ein mitreißendes Plädoyer von philosophischer Tiefe und geschrieben in einer Sprache zum Niederknien. Immer wieder entführt uns Andreas Weber in die wilden Erlebnisse seiner eigenen Kindheit und erzählt von seinen Erfahrungen als Vater, der Auseinandersetzung mit eigenen Befürchtungen, wenn er seine Kinder von der Leine lässt, und dem Glück, das sie nach Hause tragen, zusammen mit sterbenden Käfern und reichlich Schlamm in den Kleidern.

"Genies der körperlichen Subjektivität" seien Kinder, begabt mit einem "Leuchten-Bewusstsein", das es ihnen erlaube, sich in äußerster Aufmerksamkeit entspannt dahin treiben zu lassen – ein Zustand, der wenigen Erwachsenen als Moment spiritueller Öffnung vergönnt ist. In der kindlichen Sehnsucht nach der Natur zeige sich eine tiefe Einsicht in unser Dasein als Vernetzheit alles Lebendigen. Kinder allein draußen im Wald seien, so sagt der Autor, die "psychische Seite der Ökologie".

Am Ende des Buches gibt es Tipps für Eltern und Lehrer: In den Städten sollen wir Brachflächen erkunden und hemmungslos aufsammeln, was auf der Straße liegt. Ein Blumenbeet sollen wir anlegen und mit Butterbroten in den Wald ausschwärmen. Den Computer sollen wir abschalten und wieder gehen lernen. Schauen. Zeit erleben und Zeitlosigkeit.

Besprochen von Susanne Billig

Andreas Weber: Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur
Ullstein Verlag
256 Seiten, 18 Euro