A. L. Kennedy in Glasgow

Die Schriftstellerin im blauen Anzug

Die schottische Autorin Alison Louise Kennedy posiert am 30.10.2015 in Köln während eines Fototermins zur Romanverfilmung "Gleissendes Glück".
Die schottische Autorin Alison Louise Kennedy © picture alliance / dpa / Marius Becker
Von Thomas David · 16.09.2016
Alison Louise Kennedy zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Thomas David begibt sich mit der 50-Jährigen auf einen Streifzug durch Glasgow, wo ein großer Teil ihres literarischen Werks entstanden ist.
Vor 16 Jahren traf Thomas David die schottische Autorin A. L. Kennedy zum ersten Mal in Glasgow. In diesem Frühsommer, unmittelbar vor dem Brexit-Referendum, hat er die Schriftstellerin bei einem Besuch in der schottischen Stadt erneut begleitet: Im Kontext einer brisanten politischen Gegenwart, in der sich die Autorin als engagierte Kommentatorin erweist, begaben sich beide auf Spurensuche nach den Anfängen und kulturellen Hintergründen von Kennedys Schreiben.
Die Schriftstellerin erzählte von der Arbeit an ihrer frühen, soeben mit Martina Gedeck und Ulrich Tukur verfilmten Erzählung "Gleißendes Glück", las aus ihren dieser Tage in Übersetzung erscheinenden Essays sowie aus ihrem neuen, in England im Frühjahr veröffentlichten Roman "Serious Sweet".

Glasgow als metaphysischer Raum

Kennedy: "Die Anfänge und ersten Entwürfe meiner Bücher haben mehr Zeit in Hotelzimmern verbracht als selbst die tüchtigsten Spielerfrauen."
Glasgow ist der Schauplatz zahlreicher ihrer Kurzgeschichten und Romane. Im Oktober 1965 im schottischen Dundee als Alison Louise Kennedy geboren, arbeitete die Schriftstellerin nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften an der University of Warwick mehrere Jahre für ein Kunstprojekt in Glasgow. Hier sind die Stories aus "Night Geometry and the Garscadden Trains" entstanden, ihres 1990 erschienenen ersten Buchs, und "Einladung zum Tanz", Kennedys 1993 erschienener erster Roman.
Die historische Eisenbahnbrücke über den Fluss Clyde in Glasgow zwischen Gorbals und Crown Street, aufgenommen am 23.5.2016
Die historische Eisenbahnbrücke über den Fluss Clyde in Glasgow zwischen Gorbals und Crown Street© picture alliance / dpa / Robert B. Fishman
Das Glasgow von Kennedys Büchern ist dabei weniger eine reale, in allen Details der Topographie und Geschichte ausgemalte Kulisse, als ein metaphysischer, in den Köpfen und der Sprache von Kennedys Figuren aufscheinender Raum – eine Stadt des magischen Denkens:
"Ich bin im Nordosten Schottlands aufgewachsen, wo die Leute etwas reservierter sind. Glasgow ist aus einer Reihe historischer Gründe etwas mehr Highland, also ziemlich aufgeschlossen, ziemlich überschwänglich und warmherzig. Wo ich aufwuchs, ging es etwas mehr wie in Edinburgh zu, also etwas steifer und zurückhaltender."

Glauben an die Veränderbarkeit der Welt

Als politische Aktivistin glaubt sie an die Veränderbarkeit der Welt, die Aufforderung an jeden Einzelnen, die Welt um das zu bereichern, was in seinen Möglichkeiten liegt. Der grobe Stoff ihres blauen Anzugs, eines Anzugs der für robuste Arbeitskleidung bekannten französischen Firma Vétra, gab ihr am Tisch der Glasgower Yesbar den Anschein einer Wortführerin einer aus einer neuen Arbeiterbewegung hervorgehenden Revolution:
"Ich weiß nicht so recht, ob es wichtig ist, dass Zeitungen Meinungen verbreiten, zumal Meinungen nicht unbedingt auf Fakten gründen. Seit Tony Blair haben wir es in Großbritannien nicht mehr mit einer Politik zu tun, die sich auf Fakten beruft, sondern auf Ansichten oder gar auf den religiösen Glauben, und seitdem hat sich die Sprache des politischen Diskurses grundlegend verändert."
In dem zu einem improvisierten Fernsehstudio umgebauten Keller der Yesbar saß A. L. Kennedy neben den anderen Teilnehmern der Diskussionsrunde an einem Tisch. Eine kleine, beinahe schmächtige Frau, deren blauer Anzug im Licht der Scheinwerfer zu leuchten schien.

Der aktuelle Roman spielt in London

Regennasse Straßen, am Himmel Möwen vor milchigen Wolken. Kennedy ging die schmale Drury Street entlang und überquerte die Renfield Street. In der Hand ein Exemplar von "Serious Sweet", ihres erst vier Wochen zuvor in Großbritannien erschienenen neuen Romans. Kurz nach der Fernsehaufzeichnung in der Yesbar nahm sie im Stereo an einer Show der schottischen Veranstalter "Rally & Broad" teil:
"Eigentlich ist mein neuer Roman zu schwer fürs Handgepäck, aber ich habe ihn trotzdem mitgebracht. Er handelt von einem Beamten des Ministeriums für Arbeit und Renten, und weil 'Serious Sweet' in London spielt, kommen Londoner auf mich zu und sagen: 'Das haben wir Ihnen gar nicht zugetraut, einen Roman über London. Endlich ein Ort, den wir wiedererkennen.'"
Am Tag nach den Veranstaltungen in der Yesbar und im Stereo saß A. L. Kennedy in ihrem Hotel am Blythwood Square und las einen Abschnitt aus "Schreiben", ihrem aus Blogeinträgen und Essays bestehenden Werkstattbuch. Darüber schreibt sie über ihre Arbeit als Schriftstellerin, über Lesereisen und die Begegnungen mit ihren Lesern. Sie trug wieder ihren strapazierfähigen blauen Anzug, den sie auf Reisen mal schnell waschen kann, und das helle gestreifte Hemd – und erzählte von dem inneren Raum, den das Schreiben für sie erschafft:
"Dieser Raum kann alles sein, was man ihn sein lassen will. Er ist unendlich, was einem Angst machen kann, wenn man mit dem Schreiben beginnt. Man kann sich in ihm verlieren und in Sackgassen verlaufen. Aber wenn man will, dass dieser Raum eine Kathedrale ist, ist er eine Kathedrale."
Das komplette Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument oder im barrierefreien Textformat
(hum)
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