Grandeur und Charisma − bis heute
Mit Juliette Gréco feiert eine der Grande Dame des französischen Chansons ihren 90. Geburtstag. Die Journalistin Pascale Hugues würdigt eine große Sängerin: "Es gibt nicht mehr so viele, die diese Grandeur, dieses Charisma haben."
Grandeur und Charisma − das zeichnet Juliette Gréco aus, bis heute. Bis heute werde sie von den Franzosen verehrt, sagt die Schriftstellerin und Journalistin Pascale Hugues − unter anderem von ihr selbst.
"Meine Großmutter hat Juliette Gréco geliebt, meine Mutter oder meine Eltern, und ich auch", so Hugues im Deutschlandradio Kultur. "Bei meinen Söhnen bin ich mir nicht so sicher. Aber drei Generationen, das ist fantastisch, das schaffen nicht viele."
Die Texte der Chansons von Gréco seien fein, raffiniert und spielerisch gewesen. "Wahrscheinlich mehr als Piaf." Gréco sei auch intellektueller als Piaf gewesen, obwohl der Begriff intellektuell nicht gut auf Gréco passe: "Sie ist nicht verkopft, sie ist sehr sinnlich."
Das Interview im Wortlaut:
Andreas Müller: Das war Juliette Gréco mit "Accordéon", und bei mir im Studio ist jetzt die Journalistin Pascale Hugues. Schönen guten Tag!
Pascale Hugues: Guten Tag!
Müller: Wie wurde Gréco zur Königin der Existenzialisten?
Hugues: Man muss sich in die Zeit zurückversetzen. Paris nach dem Krieg, Saint Germain des Près. Das war ein sehr lebendiges Viertel. Jazz, Boris Vian, Sartre – es war eine kulturell revolutionäre Stimmung, und diese junge Frau, ganz dunkel, mit diesen großen Augen, fing an zu singen. Und diese Lieder sind einfach fantastisch bis heute geblieben.
Müller: Sie hat es ja geschafft, im Kreis dieser großen, kann man ja sagen, Männer, nicht einfach nur die Frau an der Seite zu sein, nicht einfach nur die Muse zu sein, sondern sie hat eine eigenständige Kunstform für sich gefunden, konnte sich dort behaupten. Das kann nicht sehr einfach gewesen sein, stelle ich mir vor.
Hugues: Das ist in Frankreich einfacher als in Deutschland. Sie haben Piaf, Sie haben – es gibt viele Frauen, heute sowieso, aber damals auch, die, besonders wenn sie Sängerinnen oder Musikerinnen sind – Frauen haben eine andere Stimme als Männer, da können die nicht konkurrieren mit den Männern. Es ist einfach anders. Und sie hatte auch einen sehr starken Charakter, und hat diese wunderschöne – und das ist, was ich sehr schön finde – sie hat keine Emanzenlieder geschrieben, aber sie hat extrem verführerische Lieder über die Liebe, über den Flirt, über den Sex, also sehr weibliche Lieder gesungen. Das finde ich toll. Das waren jetzt nicht politisch engagierte für die Frauenbewegung. Das wäre furchtbar gewesen. Sie ist eine der größten Verführerinnen, der größten Diven.
Müller: Sie hat ja – sie ist ja oft mit Piaf verglichen worden und hat eigentlich gesagt, ich habe nie verstanden, was die eigentlich gesungen hat, also dieses ganze Zeug von Liebeskummer. Und umgekehrt hat die Piaf sie nicht verstanden. Das war ihr wiederum zu intellektuell. Andererseits hat die Gréco ja nie so den wahnsinnigen, großen kommerziellen Erfolg gehabt im Sinne einer Edith Piaf, die ja mehr als eine Ikone ist eigentlich in Frankreich. Lag es an den zu intellektuellen Liedern?
Hugues: Das weiß ich nicht. Aber es ist wahr, dass die Lieder, die Texte von Gréco sehr fein und raffiniert und spielerisch sind, wahrscheinlich mehr als Piafs. Aber warum Piaf zur Ikone, zur Inkarnation Frankreichs geworden ist und nicht Juliette Gréco – vielleicht war der Platz schon besetzt. Das kann man nie sagen. Ja, ich glaube, dass Gréco sicher intellektueller – aber intellektuell ist kein gutes Wort, weil sie ist nicht verkopft. Es ist sehr sinnlich, was sie singt.
Müller: Mag auch damit zusammenhängen, dass Edith Piaf bereits 1963 gestorben ist, da schon natürlich Legende war, lebende Legende. Und dann begann ja auch mit dem Beginn eines neuen Pop-Zeitalters noch einmal die Überhöhung. Das mag damit zusammenhängen. Ich spreche hier mit Pascale Hugues über Juliette Gréco, die heute ihren 90. Geburtstag feiert. Ich hatte eben gesagt, Königin der Existenzialisten – wie hat sie das eigentlich selbst gesehen? Gibt es da so Äußerungen? Nimmt sie das an, diesen Titel, oder ist das einfach nur so eine Bezeichnung?
Hugues: Ich glaube, sie weiß ganz genau, was sie bedeutet für die französische Kultur. Ich habe sie gesehen – wo war das? – in Leipzig, kurz nach der Wende hat sie im Gewandhaus ein Konzert gegeben. Das war erst mal das Dekor. Die DDR war noch die DDR. Das war Anfang der 90er-Jahre. Es war rappelvoll, und dann kam diese kleine Frau, und die war da schon ziemlich alt, und sie hat gesungen "Déshabillez-moi!", das heißt, sie sagt zu einem Mann "Ziehen Sie mich aus!". Das ist so ein Striptease-Lied, und das war fantastisch. Erst mal diese – sie war bestimmt, ja, wie alt war sie? – 70, da ist es ein bisschen schwierig mit dem Striptease. Aber sie hat das mit einer Grazie und einem Selbstbewusstsein getan, das war fantastisch. Der ganze Saal ist aufgestanden danach.
Müller: Sie hat ja auch mal eine Schallplatte auf Deutsch aufgenommen, und das ist ein sehr schwieriges Verhältnis natürlich zu Deutschland. Ihre Mutter wurde verfolgt, ist ins KZ Ravensbrück gekommen. Sie selbst war sehr bedroht, ist untergetaucht mehr oder weniger – wie hat sie sich da empfunden in diesem Spannungsfeld, diesem besonderen zwischen Frankreich und Deutschland?
Hugues: Sie erzählt das sehr diskret in ihrem Buch. Sie hat eine Autobiografie geschrieben, die heißt "Jujube", das war ihr Kosename. Und sie erzählt, wie sehr schwierig diese Kindheit war, diese Angst. Aber ich glaube, dass sie nach dem Krieg, sie hat mehrere Konzerte hier gegeben, sie wurde sehr gemocht in Deutschland, also nach der Versöhnung zwischen Adenauer und De Gaulle. Also Barbara, die auch Jüdin ist, hat über Göttingen gesungen. Es hat sich so beruhigt, und es hat sich versöhnt.
Müller: 90 Jahre also heute. Wie sie aktuell in Frankreich rezipiert wird, darüber spreche ich ja gleich mit unserem Frankreich-Korrespondenten. Aber vielleicht an Sie mal die Frage: Was bedeutet Juliette Gréco für Sie persönlich, die Sie ja zum Beispiel in Berlin leben als Französin. Ist das dann immer auch so ein Stück der alten Heimat, oder was ist das für ein Verhältnis, was Sie da haben?
Hugues: Absolut. Also ich kann Piaf nicht mehr hören, Piaf, weil man hört es in jedem Restaurant, gibt es so kleinkarierte Tischdecken, in jedem französischen Restaurant möchte man französisch werden, also spielt man Piaf, und die ist mir wirklich – aber Juliette Gréco ist was ganz anderes. Der Tag, wo sie stirbt, und das wird wahrscheinlich in dem Alter bald passieren, wird ein Trauertag. Und das Interessante ist, dass meine Großmutter Juliette Gréco geliebt, meine Mutter, meine Eltern, und ich auch. Meine Söhne – bin ich mir nicht so sicher. Aber drei Generationen, das ist fantastisch. Das schaffen nicht viele.
Müller: Interessant ist, dass sie selbst im hohen Alter immer noch sich interessiert hat für das Neue. Sie hat zum Beispiel Lieder von Benjamin Biolay aufgenommen – wir hören auch nachher eines noch – aber natürlich, Sie haben das Alter schon angesprochen, wir reden eh über den 90. Geburtstag. Sie hat Auftritte absagen müssen in letzter Zeit, sie hatte einen Schlaganfall vor ein paar Jahren. Wie steht es heute um sie als Musikerin?
Hugues: Ich glaube, dass sie sehr verehrt ist von all diesen, Biolay und diese neue Generation von französischen Chansonniers, sehr geehrt als die Grande Dame, als Beispiel, als jemand, von dem man lernen kann. Und ich glaube, der Tag, wo sie stirbt – wir sollten darüber nicht sprechen heute, das ist ein bisschen undelikat, aber das wird ein Trauertag für Frankreich. Es gibt nicht mehr so viele, diese Grandeur, die also dieses Charisma haben. Und das wird ein sehr trauriger Tag. Ich erfahre immer von diesen Sachen, wenn ich Auto fahre. Zum Beispiel, als Claude Nougaro, den ich geliebt habe, gestorben ist, war ich im Auto in Berlin. Das ist eine surrealistische Situation, und dann hört man, dass jemand, der die ganze Jugend geprägt hat, gestorben ist, und man ist da in diesem Gewühl in Berlin. Und das wird das Gleiche sein, ich werde sehr heimatlos sein an dem Tag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.